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Kaum, daß ich gestern abend in den Schlafsack gekrochen bin, peitschte der Wind zuerst nur Sand
gegen das Zelt, aber dann fing es auch schon ziemlich kräftig zu regnen an. Der Wecker piepste um 3
Uhr, kurzer Gang nach draußen. Tiefe, tiefe Wolken, leichter Sprühregen, Sicht etwa 2 - 3 Kilometer.
Die Endmoräne und der Gletscherrand sind gerade noch zu erkennen. Zurück in den Schlafsack, bei
dem Wetter bin ich erst mal festgenagelt - zum Uršarháls hinauf brauche ich gute Sicht.
Um 5 Uhr wache ich wieder auf, Kontrollblick aus dem
Zelt - aha, die Sicht ist wieder gut, nur die höheren Berge haben die Köpfe noch in den Wolken.
Frühstück mit einer Tasse Tee und einem Müsliriegel - ich muß Wasser sparen.
Ich lege mir nun einen Plan zurecht. Spätestens im Zwickel zwischen Uršarháls und der Zunge des
Dyngjujökull muß ich auf die neue Piste oder auf eine eindeutige Markierung der Paßauffahrt treffen.
Da der Paß auch für Allrad getriebene Fahrzeuge sehr schwierig zu fahren ist, muß die Piste dort gut
gekennzeichnet sein. Es sind etwa zehn Kilometer dorthin, also gut zweieinhalb Wegstunden. Sollte
ich den Aufstieg aus irgendeinem Grunde nicht finden, oder der Aufstieg wegen des Wetters
unmöglich sein, dann muß ich sofort umkehren! Nach Dreki sind es 40 Kilometer und ich habe noch
zwei Liter Wasser. In eineinhalb strengen Tagen kann ich dann wieder in Dreki zurück sein. Es ist
wie beim Streckenfliegen. Findest du an einem gewissen Punkt keine Thermik, heißt es sofort
abdrehen, um mit der verbleibenden Höhe noch einen sicheren Landeplatz erreichen zu können.
Aufbruch um 7:30 Uhr. Zuerst geht es über schwarzen Sand, dann über ein kilometerbreites Geästel
aus trocken gefallenen Abflußrinnen. Die Spuren die das Wasser hinterlassen hat sind noch frisch,
aber an der Form der Rinnen ist zu erkennen, daß das Wasser langsam floß und wohl nicht tiefer als
10 - 15 cm war. In den Rinnen ist gelblich, weißes Feinmaterial (Gletschertrübe) abgelagert, und
teilweise von Einwehungen schwarzen Sandes überdeckt. Genau diese Rinnen liefern, wenn sie
trocken sind, das Material für die Staubstürme die ich gestern beobachtet habe. Es fiel mir schon auf
daß sie sich immer in etwa an den selben Stellen entwickelten. Dank des Regens ist alles feucht und
bleibt trotz des kräftigen Windes am Boden.
Durch eine breite Unterbrechung der Hügelkette gehe ich über das Schwemmland nach Westen auf
eine zweite Kette zu. Ich finde drei Markierungspfähle in einer Reihe, ein vierter liegt halb
verschüttet in einer Rinne, aber nur eine alte kaum mehr erkennbare Reifenspur. Ich bin also wohl
doch genau auf dem "alten Weg", so wie er in der Karte eingezeichnet ist! Aber auch am Fuß der
zweiten Kette ist keine Spur der neuen Piste zu finden. Dafür häufen sich Spuren der alten Piste,
Steinmänner und Abfall (sic). Bevor ich am Südende der zweiten Kette Nach SW in den "Zwickel"
einbiegen kann, muß ich noch ein Lavafeld umgehen. Am Rand einer Spülrinne finde ich einen
Lavablock mit einer durch Sediment abgedichteten Vertiefung auf der Oberseite. In dieser Mulde
haben sich vielleicht 5 - 10 Liter Wasser gesammelt! Rucksack ab, raus mit dem Falttrichter und den
Kaffeefiltern. Es funktioniert, aus der "Brühe" gewinne ich Wasser das zwar nicht ganz klar ist, aber
immerhin nicht knirscht und dafür ausgezeichnet schmeckt. Ich lösche erst meinen Durst und fülle
dann meinen Wassersack wieder zur Hälfte (Gewicht!) auf und befestige ihn außen am Rucksack.
Bei einer möglichen Umkehr kann ich hier eventuell noch einmal auftanken.
Um 10 Uhr vormittags erreiche ich den "Zwickel" der aus dem Eisrand im Süden, dem Uršarháls im
Westen und einem Lavafeld im Norden gebildet wird. Der Untergrund ähnelt mit seinem Muster aus
Spülrinnen einem Watt bei Ebbe, aber er ist fest und besteht nicht aus Quicksand. Zumindest gilt das
für den Augenblick, denn alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Flut langsam wieder einsetzt.
Von der Moräne her beginnen die ersten Schmelzwasser sich ihren Weg zu suchen. Direkt vor
meinen Füßen kann ich beobachten wie eine Spülrinne wieder in Betrieb genommen wird. Das
Wasser schiebt sich in einer dünnen Zunge mit 10 - 20 cm/s an mir vorbei, aber 50 Meter oberhalb ist
es schon ein kleiner Bach. Der Eisrand ist nur noch wenige hundert Meter entfernt. Eine kleine
Stirnmoräne, wohl nicht höher als 20 Meter, und dahinter erhebt sich die fast vollkommen mit
schwarzem Schutt bedeckte Eismasse. Beeindruckend, aber maßstabslos. Das Gefühl für Entfernung
und Höhe täuscht wohl wie so oft, wenn jeder Vergleich fehlt. Ich mache keinen Erkundungsgang
zur Moräne, denn vor mir stehen sie: frisch gelb lackierte Markierungspfähle, schön in kurzen
Abständen aufgereiht
und am Fuß des Berges leuchtet ein weißes Schild. Auch die steile Auffahrt ist gut zu erkennen.
Bingo!!
Noch ein guter Kilometer! Ab und zu ein weiter Schritt über ein halbwüchsiges Rinnsal und der
Sander ist geschafft. Nach meinem Spickzettel hätte ich erst heute Abend hier ankommen
sollen und jetzt ist es erst 10 Uhr vormittags. Ich bin zufrieden, die ganze Anspannung fällt erst
einmal von mir ab. Vor mir liegt ein langer und vergleichsweise hoher Paß. Aber Berge vermitteln
mir subjektiv eher einen Eindruck der Sicherheit, als das exponiert sein auf dieser schwarzen
Sandebene, auf der ich mich wie eine Schnecke fühlte die über einen Parkplatz kriecht. Der
Rucksack lehnt am Schild welches die vom Paß kommenden Fahrzeuge vor der gefährlichen Furt
warnt. Es ist das gleiche Schild das an allen bedeutenden Furten im Hochland steht. Aber vormittags
um 10 Uhr, noch dazu bei bedecktem Himmel, gibt es hier noch keine Probleme. Am Abend kann es
hier wohl anders aussehen. Erst muß ich noch eine Kartenkopie für den Spickzettel zurechtfalten und
mache mich "bergfest". Der rote Regenüberzug bleibt ab jetzt über dem Rucksack, er gibt ein gutes
Signal ab. Leichter Regen setzt ein, aber die Sicht ist klar und die Wolkenbasis steigt eher noch. Die
Voraussetzungen sind also relativ günstig.
Es sind nur gut 300 Höhenmeter bis zum Krater des Uršarháls der auf 1020 m ü.NN liegt, dann
bleibt die Gęsavatnaleiš über 15 km in dieser Höhe und steigt zum Schluß noch auf etwa 1200 m ü.NN
an. Uršarháls bedeutet "Geröllberg", der Berg gab dem Paß den Namen. Der Uršarháls ist ein
Schildvulkan mit einem beachtlichen Krater, der auf der neuen Kartenausgabe unverständlicherweise
nicht mehr mit einer speziellen Signatur verzeichnet ist. An der Südseite des Uršarháls staut sich das
Eis des Dyngjujökull bis auf halbe Berghöhe. Der Weg wahrt respektvollen Abstand und führt
deshalb über den Gipfel.
Der erste Anstieg ist extrem steil. Ich gehe auf der schmalen, in den Hang planierten Fahrspur im
Zickzack. Eine der wichtigsten Lehren aus meiner ersten Hochlanddurchquerung ist: alle steilen An-
oder Abstiege langsam und schonend angehen! Schnell würde hier auch gar nichts gehen, um so
hilfreicher der Einsatz der Skistöcke. In den seltenen weichen Stellen erkenne ich die Reifenspur des
Isländers wieder, also ist er doch hier gefahren. Nach dem ersten Steilstück verliere ich prompt den
Weg indem ich einer alten Fahrspur folge und gerate etwas zu weit südlich. Macht nichts, ich muß
zum höchsten Punkt, und die markierte Route ist genauso steinig wie die Hänge daneben. Ich halte
mich daher mehr nach rechts und steige langsam und mühsam höher. Wieder einmal dieses Gestöpsel
in Basaltgeröll, jeder Stein ist eine Bedrohung für das Fußgelenk, wenn der Schuh nichts taugt. Und
taugt der Schuh etwas, werden ihm zur Rache die Nähte aufgeschnitten. Zwischendurch flaches
Steinpflaster, dann wieder Windkanter. Mit dem Höhenmesser kontrolliere ich mein Vorankommen.
Kurz vor dem Krater treffe ich wieder auf die neuen Markierungen und bleibe ihnen ab jetzt genau
auf der Spur. Erste Schneeflecken und Schmelzwasserseen bestätigen meine Hoffnung, daß die
"Durststrecke" nun vorüber ist.
Der etwa 100 m tiefe Krater mit seinen senkrecht abfallenden Wänden ist beeindruckend. Leider
aber auch der stürmische NW-Wind und der peitschende Regen. Also nichts wie weiter. Der Blick
zurück und hinab zum "Zwickel" zeigt, daß die armseligen Rinnsale, die vor zwei Stunden noch
mühelos mit einem Schritt gequert habe, inzwischen schon ein Drittel der Fläche überflutet haben.
Nach meinem ursprünglichen Plan hätte ich hier heute Abend, oder, einen sehr frühen Aufbruch
vorausgesetzt, gegen Mittag dort eintrudeln müssen. Durch meinen "Abkürzer" und den dadurch
verursachten Gewaltmarsch habe ich gestern einen halben bis einen dreiviertel Tag herausgeholt. Das
bedeutet, ich komme mit nur zwei Übernachtungen bis zu den Gęsavötn und nicht mit drei!
Von weitem ist schon die Rettungshütte in einem Einschnitt zwischen zwei Bergen nördlich des
Kistufell zu sehen. Erst geht es jedoch wieder ein Stück bergab um dann wieder steil zum Dyngjuháls
hinaufzugehen, der etwa auf gleicher Höhe liegt. Nun, viel länger als eine gute Stunde wird es
dorthin nicht sein. Überraschend tauchen auf der gegenüberliegenden Paßhöhe plötzlich die
Scheinwerfer von zwei Fahrzeugen auf und halten an. Nach etwa einer halben Stunde begegnen wir
uns dann. Der erste Wagen ist ein hoher Toyota mit Spikesreifen. Die Aufschrift "Vegageršin"
(Straßenbauamt) an der Fahrertür und einige Bündel mit frischlackierten, gelben Markierungspfählen
auf der offenen Ladefläche, lassen keinen Zweifel auf, daß die drei Männer auf Dienstfahrt sind. Sie
sind ebenso neugierig wie ich. Sie haben die Route neu markiert, aber sie wird die nächste Woche
noch geschlossen bleiben - zu viel Schnee. Ich sage ihnen, daß ich bei der Hütte übernachten werde
und morgen dann zu den Gęsavötn absteige. "Allt í lagi, goša ferš!" - alles in Ordnung, gute Reise.
Der zweite Wagen ist ein Range Rover mit Berliner Kennzeichen. Ich werde bestaunt.
Offensichtlich dürfen sie im Kielwasser des Straßenbauamts hinterher
fahren. Das Fahrwerk und die Fahrzeugunterseite ihres Serien Range Rovers tut mir jetzt schon leid, wenn
ich an den "Geröllpaß" denke. Die Isländer haben da deutlich mehr Bodenfreiheit eingebaut, sie
wissen auch warum.
Um 16 Uhr bin ich am Dyngjuháls, kein eigentlicher Paß, denn er führt auf eine weiter flach
ansteigende Ebene. Die Regenschauer haben nachgelassen, aber immer noch weht der unangenehme
Nordwest durch die Scharte. An ihrer Südseite, etwas erhöht an den Geröllhang
gebaut, liegt die Hütte. Ich beschließe sie etwas näher zu inspizieren und finde auf ihrer Rückseite eine
windgeschützte Bank mit Tisch - richtig einladend, wenn nur das Wetter gemütlicher wäre. Die
Eingangstür ist mit Holztafeln verschlossen, aber die sind schnell entfernt und die Türe selbst ist nicht
abgesperrt. Der dahinter liegende Vorraum ist feucht, schmutzig, dunkel und ohne jegliche Einrichtung -
wenig einladend. Aber da das Wetter so ungemütlich ist ... Eine weitere unverschlossene Tür führt zum
Hauptraum - sehr einladend - und da das Wetter eh so ungemütlich ist beschließe ich mir den Status
eines Notfalls zuzuerkennen. Niemand ist anwesend um dem zu widersprechen und außerdem fällt
"zu Fuß gehen", und das auch noch im Hochland, für die meisten Isländer sowieso in die Kategorie
"Notfall". (Anmerkung: Ich sehe das heute etwas anders und bin der Meinung, daß Rettungshütten
wirlich nur im Notfall zu beutzen sind!)
Kistufell Hütte
Die Hütte hat 8 Schlafplätze, 2 Klapptische, einen Ölofen und eine Spüle, allerdings kein fließendes
Wasser. Ein Fenster ist nicht verrammelt und so gibt es auch genügend Licht. Drinnen hat es 6°C,
draußen 5°C. Also mache ich mir erst mal einen heißen Tee und futtere zur Feier des Tages eine
ganze (!) Tafel Schokolade. Die Füße hochgelegt erledige ich die Eintragungen im Tagebuch. Zum
Abendessen gibt es dann eine Doppelpackung Kartoffeleintopf mit erstaunlichem Quellvermögen.
Danach wird sogar abgespült - ich habe genug Wasser. Die Hütte ist zwar gemütlich aber
ausgesprochen fußkalt und so krieche ich um 19:45 Uhr in den Schlafsack. Auch wenn die Sonne
jetzt sogar kurz einmal zum Fenster herein scheint, der Wind pfeift unüberhörbar um die Hausecken.
Mit einem festen Dach über dem Kopf ist der Gedanke an eine Nacht im Zelt immer etwas
schreckender als es tatsächlich wäre. Vielleicht kann ich heute ganz beruhigt den Schlaf nachholen,
der mir gestern fehlte.
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