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17. Tag, Laugafell - Eyjafjaršardalur

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Copyright © Dieter Graser

Samstag, 30. Juli 1994


Um 5 Uhr aufgewacht, der Wind ist deutlich schwächer, kein Regen, die Wolken sind deutlich strukturiert. Im Süden sind sie dicht und dunkelblau, aber im Norden dünner und zeigen Ansätze von Lücken. Es sieht günstig aus und ich beschließe das Wetter zu nutzen und heute das Hochland zu verlassen. Mal sehen wie weit ich komme.

Start um 7:15 Uhr. Es ist nicht besonders deutlich wo meine Route von Laugafell aus weg geht, aber ich finde es dann doch. Der Rucksack zwickt heute die erste Stunde ganz besonders zwischen den Schulterblättern. Das sind die einzigen Beschwerden die sich mit der Zeit eingestellt haben, aber ich weiß, daß sich das dann im Laufe des Tages bessert. Es geht nordostwärts durch eine kuppige Grundmoränenlandschaft. Aber es geht stetig bergauf, eine Stufe nach der anderen. An den Westseiten der Hügel liegen noch Altschnee und unter etwas deutlicheren Kanten kleben noch Wächtenreste. Auch jetzt weht ein kräftiger und kalter Nordostwind. Ab und zu etwas versprühter Regen, aber nicht Ernstes, im Gegenteil es sieht zunehmend besser aus. Ich trödele nicht und komme gut voran - das ist gut so. Das Hochland steigt wie eine schiefe Ebene nach Norden hin auf über 1000 m ü.NN an. Je höher ich komme um so ungemütlicher kann das Wetter werden. Ich will diese Nacht nicht unbedingt am Plateaurand verbringen, denn die Wetterlage ist scheint mir nicht sehr stabil. Nach 5 Kilometer die Abzweigung zur Querverbindung nach Osten zum Sprengisandsvegur, dann rechter Hand der See auf dem Geldingsádrög. Wieder mal einige Regentropfen. Es geht jetzt ziemlich genau nach Norden und ich habe den Wind nun von der Seite. Um 11 Uhr die erste Begegnung mit zwei Autos. Im zweiten Geländewagen die beiden Isländer vom Pool gestern Abend. "Guter Schritt" ruft er aus seinem Lada und sie winken. Tja, ich habe halt nicht so lange ausgeschlafen! Danach bin ich wieder allein unterwegs.

Die Hügel sind zu Ende, es wird flach und weiter. Mittagspause um 12 Uhr auf einem schönen Stein. Doch tiefe, schwarze Wolken scheuchen mich weiter. Fehlalarm - fünf Minuten später ist die Sonne wieder da und ich muß die Regenhose wieder ausziehen, da es mir wieder zu warm wird. Ich liege gut in der Zeit und irgendwo dort vorne muß der Taleinschnitt beginnen. Immer wieder schaue ich auf die Karte des Spickzettels. Das Talsystem des Eyjafjöršur greift von Norden her weit in diese Hochfläche. Ich nähere mich nun seinem südlichsten Punkt. Ich bin erwartungsvoll und etwas gespannt. Die "Kante", der Abbruch zum Tal, beherrscht die Gedanken, wird zum Ziel, an der "Kante" habe ich es geschafft. Wie wird es dort sein? Bisher war es einfach wichtig unterwegs zu sein. Einen guten und sichern Platz für die helle Nacht zu finden, vor einem neuen Tag im Hochland. Jetzt suche ich die Kante, für mich das Ende des Hochlandes. Es ist seltsam, plötzlich das Ende des Hochlandes herbeizusehnen. Nicht daß ich genug davon hätte, oder daß ich es nicht genossen hätte hier zu sein, aber dort vorne ist für mich der Rand, an dem diese Welt zu Ende ist, von dort geht es hinunter in vertraute Landschaftsbilder. Um 13 Uhr kann ich die Lage des Talschlusses erkennen. Eine tiefe Freude kommt auf, es bald geschafft zu haben. Noch eine Stunde oder vielleicht auch nur eine halbe. Ich finde die Stelle wieder, wo wir vor drei Jahren, aus dem Ejyafjaršardalur heraufkommend, angehalten haben. Wir stiegen aus den Wagen aus, froren im heftigen Wind und waren wie vor den Kopf geschlagen von der grauen Weite und Kargheit des Hochlandes. Wir gingen ein paar Schritte und ich sah mir meine Fußspuren im überraschend weichen Untergrund an. Ich glaube nicht, daß ich mich damals gefragt habe, wie es wohl sein könnte, hier allein und zu Fuß unterwegs zu sein. Der Gedanke war wohl zu abwegig. Es war Abenteuer genug mit einem Nissan Patrol hier oben zu stehen.

Eyjafjaršardalur
Eine flache, nach Norden geneigte Talmulde mit einem Labyrinth großer Basaltblöcke führt zum eigentlichen, steilen Talschluß. Dort stehen auch die ein gleichseitiges Dreieck bildenden Masten, die mit über Rollen laufende Stahlkabel miteinander verbunden sind. Ich habe sie mir als Orientierungspunkt auf dem Spickzettel vorgemerkt. Sinn und Zweck dieser offensichtlich nicht mehr in Stand gehaltenen Vorrichtung (Antennen?) war mir lahge ein Rätsel. Später habe ich erfahren, daß mit diesen Vorrichtungen Daten über die Zuglast von vereiseten Stromleitungen gesammelt werden. Ich suche mir einen Felsblock, von dem ich aus einen schönen Blick hinunter ins Tal habe und hole ausgiebig die ausgefallene Mittagspause nach. Die Orange aus Nżidalur schmeckt ausgezeichnet zum heißen Tee. Ich lasse mir Zeit für meine Gedanken, nichts drängt - jetzt erst recht nichts. Ich fühle mich zufrieden, ausgeglichen und ruhig. Nach 14 Tagen werde ich hier das Hochland wieder verlassen. Die Tour ist mir so gut gelungen wie es nur zu wünschen war. Was jetzt kommt ist ein Nachspiel, das Wetter ist jetzt kein Risikofaktor mehr sondern bestimmt höchstens noch den Komfort. Irgendwann morgen, gegen Mittag, werde ich den ersten Hof erreichen.

Ich sitze auf meinem Felsen und schaue in das enge Tal. Mit leuchtendem Moos besetzte Runsen ziehen die steilen, schrofigen Hänge herunter. Im schmalen Talgrund erstes sattes Grün neben dem schäumenden Wildbach. Ein Hochtal wie in den Alpen. Unten kriecht ein kleiner Konvoi von Spielzeugautos das Tal herauf. Nur das Aufblinken der eingeschalteten Scheinwerfer hat sie verraten. Ich verfolge sie lange mit den Augen und warte bis sie ganz zu mir heraufgekommen sind. Sie haben über eine halbe Stunde gebraucht, zwei alte Bundeswehr Mungas, ein VW-Bus Syncro und noch zwei Geländewagen, alle aus Hamburg. Man sieht ihnen förmlich an, daß sie bei dieser Steigung Blut und Wasser schwitzen. Besonders die beiden Mungas jaulen mit ihren Zweitaktern. Die Fahrspur ist steil, steinig und schlecht und die Motoren müssen alles hergeben was sie an PS haben. Die Fahrer klemmen recht verkrampft hinter ihrern Lenkrädern. Etwas irritiert schauen sie zu mir herüber und ich grinse von meinem Felsen zurück. Bald sind sie vorbei und gehört das Tal wieder mir.

Vorbereitungen für den Abstieg. Den Anorak als Windschutz brauche ich jetzt nicht mehr, die Wasserflasche kann ich auch leeren, aber die Schuhe müssen noch einmal extra fest gebunden werden. Der Rucksack ist zwar etwas leichter geworden aber wiegt noch über 25 kg, also gehe ich es langsam an. Die Schotterstraße ist im oberen Bereich neu angelegt worden, aber auch hier ist sie teilweise so steil, daß ich im Zickzack gehe. Der erste Bach. Kristallklares Wasser springt über bemoosten Basalt. Es ist ein Traum für mich - alle 20 bis 30 Meter kommt ein kleiner Quellbach aus dem Hang. Überall sprudelt es hervor, findet zusammen und vereinigt sich schließlich zur Eyjafjaršará. Der Himmel ist inzwischen weiß-blau. Oben, unter den Graten, blendende Schneereste auf dem durch rötliche Lagen getrennten, flach lagernden Basalt. Die Sonne bricht durch und läßt das Moos der Quellen zwischen den graubraunen Geröllhalden fluoreszieren. Aber selbst unten im Tal noch Reste von Lawinenschnee. Es ist warm, die Sonne brennt mir in Genick, die Mücken versuchen zu stören, werden aber wohlwollend ignoriert. Nur noch ab und zu kommt ein schwacher Windstoß Vom Hochland in das Tal herunter. Unterhalb der Steilstufe des Talschlusses führt der Weg am Bach entlang. Dichte Polster von Gras und Zwergsträuchern zwischen den großen Felsblöcken, kleine Wasserfälle, Gumpen und immer wieder neue Zuflüsse. Ich habe schon immer eine besondere Beziehung zu Wildbächen gehabt und genieße diesen wie ein ganz persönliches Geschenk. In meiner Erinnerung kam mir das Tal nicht so schön vor. Aber wie sollte man auch vom Rücksitz eines Autos auch einen Eindruck von der Natur gewinnen können?

Zwei isländischen Wagen begegne ich noch und muß Auskunft geben. Von Laugafell? Heute? Ein bedächtiges "Já, já já". Und von woher nach Laugafell? Bin insgeheim schon ein bißchen stolz, wenn ich dann die Stationen aufzählen kann. Aber das ist nicht das eigentlich Wichtige. Nicht die physische Leistung, die schien mir bei der Kjölur Route, größer, obwohl sie kürzer und leichter war, das Erlebnis, den Rhythmus eines Weges, einer Landschaft finden. Wandern, Schritt für Schritt sich durch das Hochland erlaufen. Eine Landschaft erwandern, wie man ein Buch liest. Langsam, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Die Reise zu Fuß wird von selbst zur Geschichte indem man ihr die Dimension der Zeit gibt. Die Phantasie läuft immer mit.

Eyjafjaršardalur
Um 16 Uhr finde ich einen schönen, großen und ebenen Platz am Fluß und baue das Zelt auf. Ich bin ziemlich genau unterhalb des Torfahnúkur gegenüber dem ersten, in der Karte verzeichneten Zufluß der Eyjafjaršará. Alles was von gestern noch naß und feucht ist wird herausgekramt und wird in der warmen Sonne zum Trocknen ausgebreitet oder aufgehängt. In der Phototasche sind die Filmschachteln aufgeweicht und die Kamera ist beschlagen. Ich liege vor dem Zelt auf der Matte und schlafe in der Sonne. Ein halbes Stündchen nur, aber wie herrlich. Die Sonne verschwindet gegen 18:30 Uhr hinter dem Berg, ich räume auf und mache mir heute eine ganze Doppelpackung zum Abendessen. Nach dem Abspülen am Wasser noch zur Feier des Tages rasiert. Kurzer Spaziergang durch die weichen Buckel der Žúfur. Vor dem Einschlafen noch die Eintragungen im Tagebuch.