14. Tag, Noršurdalur - Skaftafell

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Dieter Graser © 2006

Samstag, 29. Juli 2006


Der Wecker wieder um 5:00 Uhr. Gleich ein Blick nach draußen: Die Eggjar wachen klar und scharf über Gletscher und Tal. Kein Wind, keine Regen, kein Nebel, aber auch keine Sonne. Egal! Solange es für den Aufstieg trocken bleibt und die Sicht gut ist, soll es mir recht sein. Mehr brauche ich nicht.

Komme um 7:20 Uhr los. Zuerst wie zur Wasserstelle, aber dann weiter links hoch und die Anfänge der ersten Schlucht oberhalb umgehen. Auf einer Höhe in 750 - 650 m ü.NN ziehen sich dann die "Böden" über 2 km zwischen Fęrneseggjar und Langagílseggjar nach Osten hin. Ein häufiges Auf und Ab, aber nichts böses. Stoße immer wieder auf den undeutlichen Trampelpfad meiner Vorgänger. Viele sind es nicht pro Jahr, aber sie hinterlassen eben eine Spur. Die Tour hat in Island einen gewissen Bekanntheitsgrad und wird als geführte Tour auch von den "Fjallaleišsögumenn" angeboten. In diesem Sommer scheint jedoch nur dieser einzelne Wanderer vor mir hier unterwegs gewesen zu sein. Wege im Gebirge und in der Wildnis haben eine gewisse, wenn auch nur schwer beschreibbare Logik. Wenn man selbst über ein gewisses "Weggefühl" verfügt, dann findet man die Spuren seiner Vorgänger fast automatisch. Besonders an den Bacheinschnitten ist die Pfadspur stets zur Stelle und führt mich den richtigen Weg hinein und wieder heraus. Aber genauso schnell verliert sie sich wieder in unkritischem Gelände. Eine großer, ideal zum Niedersitzen geeigneten Stein, lädt mich zu einer Pause ein und direkt neben diesem Stein liegt ein Paar verwitterter aber noch gut zusammengeschnürter Tennissocken.

Aufstiegsroute
Am Langagilsegg beginnt der Aufstieg quer über steile Geröllfelder. Hier ist die Pfadspur gut sichtbar. Sie ist fest genug um beim Auftreten guten Halt zu bieten. Alle Gesteinsfarben sind hier im Hang zu finden. Die ockerfarbenen Geröllfelder sind am feinesten verwittert und etwas rutschig. Bei jeder Pause auf einem "Sitzstein" fällt der Blick zurück auf das Noršurdalur und auch hinauf zum Gipfelaufbau des Blátindur. Den GPS Kordinaten nach quert der Aufstieg den Nordhang schräg hinauf um dann den Grat zu erreichen. Aus der Entfernung ist keine Fußspur des "Vorgängers" zu erkennen und die Schneefelder dort oben sind steil - sehr steil. Mit Erreichen des ersten Schneefeldes lege ich die Grödel an. Weiter in der deutlichen Spur des Vorgängers. Dieser biegt dann aber nach rechts zum Westgrat ab. Ich folge ihm noch den kurzen Weg in die Scharte aus der ein heftiger kalter Wind Wolkenfetzen emportreibt. Er hat wohl den Weg über den felsigen Gipfel des Blátindur genommen. Ich entscheide mich den Gipfel auszulassen und wie geplant den Koordinaten zu folgen.

Fęrneseggjar
Zwischen den Schneefeldern ist auf den kurzen Geröllstücken der "Normalweg" zu erkennen und bestätigt die im Internet gefundenen GPS-Koordinaten. Es geht weiter schräg ansteigend hinauf. Kurz nördlich, unterhalb des Gipels, kommt die Schlüsselstelle: eine von aus dem Schneefeld ragenden Felsen begrenzte Steilrinne. Es sind nur gut 20 m die da zu queren sind, aber die erlauben keinen Fehler. Ich verkürze den rechtsseitigen Bergstock. Ab jetzt geht jeder Schritt nur zwei Schuhlängen weiter, der talwärtige Fuß sogar nur eine. Der Schnee ist aufgefirnt, die obersten Zentimeter sind körnig und weich, darunter kommt erst die feste Schicht, in der die kurzen Zacken der Grödel Halt finden. Auf beide Stöcke gestützt schlage ich fünf bis zehn Mal mit dem Schuh jeden neuen Tritt frei. Tritt für Tritt im gleichen Rhythmus und nur nicht nach unten schauen, nur voraus!

Skeišarárjökull
Schließlich ist diese etwas heikle Stelle geschafft und der Hang lehnt sich etwas zurück. Es sind nur noch wenige Meter bis hinauf zum Ausstieg durch die alten Wächtenreste auf den Grat. In einem Moment der Unaufmerksamkeit rutscht mir der rechte Fuß auf einer Schicht Wassereis ab, als ich das volle Gewicht auf ihn verlagere. Ich stürze zum Hang und bevor ich richtig ins Rutschen komme greifen die Grödel des linken Fußes. Scheiße, das hätte schief gehen können - bis runter ins Noršurdalur!

Vergrößern
Panorama Öręfajökull

Endlich auf dem Grat. Die letzte Stunde hatte ich dem Himmel wenig Aufmerksamkeit gewidmet, meine Blicke waren mehr auf die nächsten Schritte gerichtet gewesen. Die durchgehende Wolkendecke des Vormittags hat große Löcher bekommen und löst sich auf. Von beiden Seiten des Grates treibt die Thermik Wolkenfetzen nach oben. Die Sicht zur anderen Seite hinunter nach Skaftafell und auf dem Skeišarársandur ist überwältigend. Zwischen und über den von unten aufsteigenden Wolken wirkt der Öręfajökull mit seinem höchsten Gipfel, dem Hvannadalshnúkur, trotz einer Höhe von nur 2111 m, dem Mont Blanc ebenbürtig. Im Windschutz eines Felsens mache ich Pause, trinke heißen Tee und futtere zwei Müsliriegel. Beide Photoapparate bekommen viel Arbeit. Es ist 10:30 Uhr. Ich liege gut in der Zeit. Nun folgen "nur" noch 1100 Höhenmeter Abstieg.

Grat
Zuerst folge ich weiter dem Grat. Die Altschneewächten befinden sich auf der Nordwestseite und dokumentieren schön Südost als die Hauptwindrichtung. In der weiten Scharte, am tiefsten Punkt des Grates, stoße ich wieder auf die Pfadspur welche nun steil nach Süden hinunter die mächtigen Geröllfelder quert. Mit leichtem Gepäck könnte man da in kürzester Zeit hinuntertoben - mit 30-Kilorucksack geht das eher schrittchenweise. Im Boden des 200 m tiefer gelegenen Hochtales verliert sich die Pfadspur wieder. Die GPS Koordinaten lassen vermuten, daß man nun einem breiten, bequemen Rücken in der Talmitte folgen könnte. Doch das ist nicht offensichtlich, denn dieser Rücken wird sowohl von links wie von rechts von Schluchten begrenzt und von oben ist nicht sichtbar, wie es am unteren Ende des Rückens aussieht, wo sich die beiden Schluchten treffen. Ein einziger zusätzlicher Wegpunkt in der Mitte des Rückens, hätte den Weg eindeutig gemacht. Ich entschließe mich trotzdem dem bequemen Weg über den Rücken zu folgen und er erweist sich dann auch als richtig.

Bláhnúkadalur
An Ende des Rückens ist die östliche Schlucht gar nicht mehr zu tief und wie auf Bestellung taucht die Pfadspur wieder auf und weist den Weg durch den Tobel. Der Bach überrascht mich mit einem hübschen, kleinen Wasserfall, mit herrlich klarem Wasser und einem tiefen Gumpen. Die Sonne hat den Talgrund aufgewärmt, es ist fast windstill und ich fühle mich durchgeschwitzt und verdreckt. Also: raus aus den Klamotten, schnell eine einsame Ente (was macht die denn hier?) verscheucht und prustend untergetaucht. Die Sonne hat ganze Arbeit geleistet und das Wasser den Morgen über auf eine frische aber erträgliche Temperatur gebracht. Zur Feier des Ereignisses gibt es frische Unterwäsche.

Bad
Der Weg verläuft, nun häufig sichtbar, an der östlichen (orographisch linken) Talseite des Vesturdalur. Eine weitere Schlucht wird gequert und allmählich machen sich die vielen Höhenmeter und der schwere Rucksack in den Knieen und den Füßen bemerkbar. Überrascht registriert die Nase eine vielfältige, sonnenwarm duftende Vegetation und den Geruch von Erde. Auf etwa 400 m ü. NN komme ich am ersten Birkengebüsch vorbei. Die Birken werden mehr und mehr und auf den letzten hundert Höhenmeter muß man sich teilweise schon den Weg zwischen ihnen hindurch suchen.

Réttargil
Etwa um 16:00 Uhr erreiche ich den weiten Talgrund des Morsárdalur. Von einer meiner ersten Islandtouren kenne ich noch einen schönen Platz an der malerisch wilden Mündung der Réttargil. Neben einem kleinen Wasserfall setze ich den Rucksack ab und gönne mir eine letzte größere Rast. Langsam realisiere ich, daß ich damit auch das letzte große Hindernis der Tour geschafft habe. Plötzlich taucht auf einem der Felsen ein weiß-roter isländischer Spitz auf und guckt neugierig zu mir herunter. Er verschwindet gleich wieder und kurvt wenige Augenblicke später um einen anderen Felsen, trabt zu mir, schnüffelt zur Begrüßung kurz an meiner Hose, läßt sich den Rücken tätscheln und macht sich wieder davon. Von einem Herrchen oder Frauchen keine Spur. Immerhin der Beweis, daß ich mich im Bereich der markierten Wanderwege von Skaftafell befinde.

Mórsárdalur
Der fast zugewachsenen Wanderweg führt nun durch dichte Lupinenfelder zuerst nach Nordosten und dann über das weite Schotterfeld der Mórsá. Ein erster Wanderer kommt mir entgegen und erklärt mir in stark französich gefärbtem Englisch, daß die Brücke "broken" sei, man käme aber trotzdem hinüber. Ein großer, gelber Bulldozer ist gerade dabei einen neuen Damm auftzuschütten um die Mórsá wieder in ihr vorgesehenes Bett, und damit wieder unter die Fußgängerbrücke zu zwingen. Freundlicherweise hat er auch eine hohe Schotterhalde vor dem Stegende aufgeschüttet, denn dieses befindet sich in 2 m Höhe. Wäre ich einen Tag früher gekommen, dann hätte ich doch noch ein kleines Problem zu knacken gehabt.

Blátindur
Der weitere Weg über die Skaftafellsheiši ist sicher wunderschön, voller Blumen, Birkenwäldchen und plätschernder Bächlein. Aber mir fordert der 4,5 km lange Spazierweg einen Berg mit 160 Höhenmetern ab und ich bin stehend KO. Im Kopf bin ich schon lange angekommen, ich muß nur noch meinen Körper und meinen Rucksack zu diesem Zeltplatz schleppen. Aus einem Spaziergang wird für mich eine Qual und ich habe keinen Blick mehr für die Idylle. Selbst der Svartifoss, ein unbedingtes Besichtigungsmuß aller Besucher des Nationalparks, lasse ich links liegen und stolpere mit schmerzenden Füßen den Weg hinunter zum Zeltplatz.

Ein mir entgegenkommendes, holländische Paar liest offenbar in meinenen Gedanken und ermuntert mich: "Just some minutes - you have made it soon!" Angesichts meines Rucksacks fragen sie mich wo ich herkomme. Ich erkläre ihnen kurz die Route und sage ihnen, daß sie zu den ersten Menschen gehören, die ich seit neun Tagen sehe. "And how do you feel back in the real world?" Zu einer halbwegs vernünftigen Antwort auf diese Frage, bin ich im Moment nicht mehr in der Lage. Aber dieser Satz beißt sich in meinem Kopf fest und beschäftigt mich auf den letzten Metern hinab zur Zeltwiese von Skaftafell.

Bin ich nun, da ich wieder unter Menschen bin, in der "realen" Welt? Was für eine Welt war das dann, durch die ich gewandert bin, wenn nicht die realste aller Welten? Rein physisch, rein Natur, nichts als Realität. So real, daß eine Mißachtung dieser Realität fatale Folgen haben könnte. Sicher, es gibt auch eine Welt der sozialen Bindungen, der Wirtschaft, der Politik und der Kultur mit all ihrer Komplexität und ihren Gesetzen. Man kann in keiner der beiden Welten allein leben, auch wenn die physische Welt von vielen Mitmenschen ignoriert wird. Jeder kleinste Kontakt mit ihr wird zum "Abenteuer" erklärt und wer sich ernsthaft mit ihr einläßt, wird des Eskapismus verdächtigt.

Mit diesen Gedanken erreiche ich um 19:00 Uhr Zeltplatz. Der Zeltaufbau ist zwar Routine, aber ich fühle mich zerschlagen. Im dichten, warmen Gras sitzend ziehe ich mir die Berschuhe aus und massiere die Füße, welche seit der Furt durch die Hverfisfljót immer noch halb gefühllos sind. Das Gelenk am der rechten großen Zeh ist geschwollen und schmerzt bei jeder Berührung. Ich bekomme den Fuß nicht mehr in den Schuh hinein. Selbst die Sandalen sind kaum mehr zu ertragen. Ich humple zum Nationalparkzentrum und zum Laden. Es ist nach 19:00 Uhr und der Landen schon geschlossen. Bier hätte es sowieso keines gegeben. Rufe Annie zuhause an, um ihr mitzuteilen, daß alles in Odnung ist. Rede, glaube ich, viel wirres Zeug, aber es tut so gut mit ihr zu sprechen. Zurück im Zelt Schüttelfrost. Krieche in den Schlafsack und versuche mich aufzuwärmen. Nach einer Stunde bin ich fähig mir etwas zu Essen zu kochen. Hunger habe ich eigentlich keinen.

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