17. Tag, Bergland - Eyjafraršardalur

Inhalt Home

Copyright © Dieter Graser

Samstag, 16. August 1987


Habe in der komfortablen Hütte prächtig geschlafen. Der Himmel ist wie gestern Abend bedeckt, es geht ein leichter Südwind und das Thermometer am Hüttenfenster zeigt + 7°C an. Um 8:00 Uhr werfe ich mein Übernachtungsgeld in die Kasse, verschließe die Hütte wieder und mache noch ein Photo vom Aufbruch.

Bergland
Die Warten stehen in kurzen Abständen und führen den Hang über dem östlichen Ufer des zweiten Sees entlang. Immer wieder stoße ich auf den alten Fahrweg dessen Spuren im Blockwerk kaum zu erkennen sind sobald man sich etwas von ihm entfernt und der in vielen Windungen unwegsamen Gebieten ausweichen muß. Ich folge dem alten Reitweg in direkter Linie von Warte zu Warte. Am höchsten Punkt des Weges, auf 940 m ü.NN, steht eine besonders breite Warte, die eher einem Steinhaufen gleicht. Beim Näherkommen endecke ich daß die Warte neben aus Steinen auch aus einigen verwitterte Pferdeknochen aufgebaut ist. Ein recht eindrucksvoller Hinweis auf den alten Reitweg. "Kerling" - altes Weib - ist in einen Stein auf ihrer Nordseite eingemeißelt. Die Namen sind meiner Meinung nach wohl erst in jüngerer Zeit angebracht worden um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Vatnahjallavegur ist der einzige mit Warten markierte Zugang aus dem Eyjafjöršur ins Hochland und war damit sowohl Zubringer zum Sprengisandur als auch über den Eyfiršingavegur zum Kjölur. Der erste Versuch einen mit Automobilen befahrbaren Weg einzurichten folgte also dem traditionellen Weg. Ich hatte genug Gelegenheit mir diese Straße anzusehen und kann gut verstehen, warum dieser Zugang zum Hochland nicht in allgemeinen Gebrauch kam. Ein zweiter Weg wurde in einem östlichen Seitental des Eyjafjaršardalur auf den Hólafjall angelegt. Aber auch dieser Weg hat sich nicht bewährt und ist heute in keiner Karte mehr verzeichnet. Die heutige Piste folgt dem Haupttal bis in den Talschluß hinauf und hat dann nur noch eine Steilstufe von knapp 300 Höhenmeter zu überwinden dem die 600m zum Vatnahjallavegur entgegenstehen.

Nach der "Kerling" Warte beginnt der Abstieg über felsiges und verblocktes Gelände hinunter in das weite Hängetal der Vatnahjalli (vatn = Wasser, See; hjalli = Felsterrasse an einem Hang). Das Chaos der Blöcke ist so unübersichtlich, daß ich die "Fahrstraße" einfach verliere und weglos den Talboden auf die Nordseite quere. Am Gegenhang fallen die bis über 2 Meter mächtigen Wälle von Frostschuttloben auf. Über einige kleinere Warten finde ich wieder auf den eigentlichen Weg zurück von dem ich mich offensichtlich gar nicht weit entfernt hatte und folge ihm zum Abstieg über das steile Hafradalur. Ich suche vergeblich nach einer bedeutenden Warte, die als einzige mit ihrem bemerkenswerten Namen "Sankti Pétur" in der Karte eingezeichnet ist und auf die ich auch schon in der Literatur stieß. Allein diese Warte steht etwa 50 m östlich des Weges an der Kante eines erst flacher und dann steil nach Norden abfallenden Hanges, so daß sie von oben gesehen halb verdeckt ist und nicht besonders auffällig erscheint. Vom Aufstieg her betrachtet zeichnet sie sich aber groß und deutlich gegen den Himmel ab und ist sogar noch vom Tal aus zu sehen. Trotz dieser Erkenntnis mache ich mich nicht daran noch einmal wieder hinaufzusteigen um mir die Warte näher anzusehen sondern setze meinen Abstieg fort.

Eyjafjaršardalur
Mit den Quellen am Hang zeigt sich auch erste Vegetation. Leuchtend grüne Moose zuerst, tiefer dann auch Polster mit Gräsern und Blumen. Im weichen Boden der ausgewaschenen Fahrspur sind die Spuren eines Geländewagens und die eines Motorrades zu erkennen. Der Motorradfahrer, ein in Akureyri lebender Schwede, war der letzte Besucher der sich vor mir im Hüttenbuch eingetragen hatte. Wenn der Motorradfahrer ein Akrobat war dann hatte er mit einer leichten Maschine vielleicht einigen Spaß. Für den Geländewagenfahrer bezweifle ich das allerdings - die Spuren sprechen Bände. Der steile Abstieg mit dem schweren Rucksack beginnt in die Knie zu gehen und ich muß immer wieder eine Pause einlegen. Langsam und mit viel Stockeinsatz geht es tiefer und tiefer an der steil in die Talverfüllung eingeschnittenen Schlucht Hafrárgljúfur entlang. Trotz bedecktem Himmel wird es wärmer. Im letzten Drittel des Hanges werden mir Jacke und Hose endgültig zu lästig und ich wechsle ich die dicken Faserpelzhosen gegen die Bundhosen. Genau um 12:00 Uhr Mittags erreiche den Talgrund des Eyjafjaršardalur und die Schotterstraße auf der ich vor vier Jahren das Tal heraus kam. Zum ersten Bauernhof sind es nur noch 4 Kilometer.

Am Wegrand erste Heidelbeeren, aber bücken mit Rucksack ist kaum möglich. An einem kleinen Bach lege ich mich ins Gras und mache eine kurze Mittagspause. Zeit und Muße um mir klarzumachen, daß die Tour jetzt zu Ende geht und für dieses Mal einen gedanklichen Punkt zu machen. Abschließen kann ich es noch nicht - das wird noch Tage brauchen. Am Fluß sind 4 Angler am Aufbrechen. Ich habe sie schon während des Abstieges aus dem Hafrádalur beobachtet. Als ich wenig später wieder unterwegs bin kommen auch sie mit den Autos das Tal herausgefahren, halten kurz an und fragen, ob sie mich ein Stück mitnehmen könnten.

So komme ich schnell zur Steinstašaskáli - Tankstelle, Imbiß und Tante-Emma-Laden des Tales - alles in einem. Ich setze mich an einen Tisch bestelle etwas zum Essen, zwei Leichtbier dazu und zum Abschluß einen Kaffee. Ich bin der Meinung, daß ich von hier aus einigermaßen leicht weiterkommen könnte. Bei meinem letzten Besuch war hier die Hölle los, aber da war auch "Wohltätigkeitskuchenbuffet" des Frauenvereins der Talschaft. Heute ich bin der einzige Gast und auch die Straße ist wie ausgestorben. Nach diesem ersten Zivilisationskontakt mache ich mich auf und tippele auf der Straße weiter talauswärts. Das Gehen auf diesen schnurgeraden Talstraßen ist ein Thema für sich. Ich kenne den Talhatschereffekt aber inzwischen nur zu gut und er kann mich nicht mehr überraschen. Trotzdem, die Luft ist raus und jeder Kilometer zieht sich zu einer kleinen Unendlichkeit. Daß es zu Nieseln anfängt erhöht die Moral auch nicht weiter. Schließlich über die Brücke auf die andere Talseite. Rein rechnerisch gesehen sollte sich jetzt die Verkehrsdichte verdoppeln. Das einzige was sich verdoppelt ist die Intensität des Regens. Vor 4 Jahren war ich auf der selben Straße unterwegs - es ist als wäre es gestern gewesen. Inzwischen setze ich meine Hoffnung auf ein Taxi welches mit einem Fahrgast taleinwärts fuhr. Irgendwann muß es doch auch wieder zurück nach Akureyri fahren.

Schließlich hält ein Pickup an und ich werfe meinen Rucksack auf die Ladefläche auf der wohl vorher Kartoffeln transportiert wurden. Der Fahrer, ein Bauer aus dem Tal, fährt mit seinem Sohn nach Hrafnagil Von da sind es noch 12 km bis Akureyri. Hrafnagil ist ein typischer isländischer Schulort. Um die zentrale Talschule ein paar kleine Läden, eine Tankstelle, Café und eine Handvoll Häuser. Die Wiesen vor der Schule sind von einer Unmenge von Autos zugeparkt. "Handverk Exposition" klärt mich mein Fahrer auf. Bei mir klingelts - da wird Lene sicher auch ausstellen. "Lene Zachariassen from Dęli? My wife knows her, sure she will be there!"

Also besuche ich die Ausstellung. 500 Kr ist ziemlich viel Geld für den Eintritt. Meinen Rucksack stelle ich irgendwo ab und hoffe daß ich in meinen nassen Sachen nicht allzusehr miefe. Lenes Roßhaararbeiten sind mit denen anderer Künstler in einem mit Heuballen dekorierten Raum ausgestellt. Ein Sänger in Tracht singt zur Gitarre ein paar Volkslieder. Leider ist Lene heute nicht anwesend, sie kommt erst morgen wieder versichert mir einer der Mitaussteller. Schade, wäre eine schöne Überraschung gewesen. Nichts gegen eine kulturelles Programm, aber mir ist eher nach zivilisatorischen Errungenschaften wie einer Dusche und Kleidung wechseln. Und überhaupt sind mir hier zu viele Leute auf einem Haufen.

Ich mache mich wieder auf den Weg. Immer schön am rechten Straßenrand entlang. Über mangelndes Verkehrsaufkommen brauche ich mich nicht zu beklagen. Die Ausstellungsbesucher fahren zurück nach Hause. Die meisten Wagen sind voll besetzt - samstäglicher Familienausflug. Normale Personenwagen brauche ich gar nicht versuchen anzuhalten, aber ich spekuliere auf die großen Jeeps. Der große Rucksack mit der Regenhülle verhindert ein einfaches über die Schulter blicken, ich muß schon stehen bleiben und mich umdrehen um die in Richtung Akureyri fahrenden Autos mustern zu können und um gegebenenfalls ein freundliches Gesicht zu machen, wenn ein dicker Geländewagen anrollt. Es scheint aber nichts zu nützen und schließlich drehe ich mich gar nicht mehr um sondern halte einfach im Weitergehen den Daumen raus. Wohl fühle ich mich nicht im Regen auf der Bankette einer ziemlich dicht befahrenen Straße. 12 Kilometer sind es noch bis Akureyri, also schlimmstenfalls 3 Stunden. Nach etwa einer Stunde bremst ein alter verrosteter Lada für mich. Es ist der Sänger von der Ausstellung! Er steigt aus, öffnet den Kofferraum den er offensichtlich für geräumig genug hält um meinen Rucksack aufnehmen zu können, aber findet ihn zu seiner eigenen Überraschung mit irgendwelchem vergessenem Gerümpel gefüllt. Also wird die Gitarre auf der Hutablage und der Rucksack auf der Rückbank verstaut. Es ist eng und die Beifahrertür läßt sich kaum schließen weil die alte Kiste so verzogen ist, aber wir fahren Richtung Akureyri!

Wir kommen ins Gespräch und witzeln über die Verbundenheit der Musiker mit den Vagabunden. Ich erfahre von ihm, daß am Wochenende abends kein Bus von Akureyri nach Dalvík fährt. Mist, damit habe ich nicht gerechnet! Aber er würde heute sowieso noch nach Dalvík fahren, er müßte vorher nur noch zuhause in Akureyri etwas erledigen, wenn ich also ein Stündchen auf ihn warten wollte. Und wohin wollte ich eigentlich? Ach ja, auch ins Svarfašardalur. Inzwischen klickt es bei mir und ich frage ihn ob er vom Hof Tjörn käme (alle begabte Musiker). Ja, er sei Žórarin Hjartason. Also ist alles klar und Island ist wieder mal das kleine Dorf in dem jeder jeden kennt. Natürlich kennt er auch Hans und hatte auch schon von mir gehört. Er setzte mich am Busbahnhof ab wo ich meinen kleinen Rucksack mit dem überzähligen Material, das ich von Hveravellir hierher geschickt habe abhole. Dann rufe ich kurz Annie in München an und gehe anschließend in die Cafeteria Sulnaberg. Nach einer guten Stunde kommt wie verabredet Žórarin zurück und wir setzten die Fahrt nach Dalvík fort. Als weiterer Fahrgast zwängt sich noch sein nasser Hund mit in den Lada - bin also nicht allein verantwortlich für die dicke Luft im Auto - wie beruhigend.

Ich erfahre viel über die Geschehnisse im Tal. Immer mehr Bauern geben die auf. Sogar sein Bruder Kristján auf Tjörn überlegt die Landwirtschaft aufzugeben. Undenkbar noch vor wenigen Jahren, schließlich war sein im letzten Jahr verstorbener Vater Hjörtur der Präsident des isländischen Bauernverbandes. Aber auch die anderen Höfe sind entweder zu klein und unwitschaftlich oder die Jungen ziehen weg und die Alten können nicht mehr. Nur wenige setzen auf weiteren Ausbau und fahren offensichtlich gut damit. Óskar auf Dęli ist einer von ihnen und Žórarin spricht mit Respekt von ihm. Nach einem kurzen Stop in Tjörn bei dem ich seine Brüder Árni (der Geologe) und Kristján traf, chauffiert mich Žórarin noch weiter taleinwärts in Skišadalur nach Dęli.

Skišadalur
Als erstes begegnete mir dort Nancy von der Geographenmannschaft, Lene ist noch im Stall und Óskar ist mit dem großen Fendt noch auf dem oberen Heufeld zu Gange. Dank und Abschied von Žórarin und Begrüßung von Lene im Stall. Inzwischen ist auch Hans eingetroffen und nimmt mich die letzten 2 Kilometer nach Möšruvellir mit. Der nun voll ausgebaute alte Schafstall dient nun als Gäste-, Festhaus und Forschungsstation. Meine Tasche mit den Zivilklamotten hatte schon vor mir den Weg von Reykjavík hierher gefunden. Eine schnelle Dusche und dann Aufbruch zum nächsten Hof Žverá. Vor zwei Jahren aufgegeben, nun von Óskar renoviert, dient er der dendrochronologischen Abteilung der diesjährigen Geographenmannschaft als Unterkunft. Die Innsbrucker feiern heute ihr Abschiedfest. Auch die ganze Dęli Familie ist da und wir finden kaum genügend Platz um den großen Tisch. Es gibt mit Tiroler Speckknödel und Apfelstrudel!

* * *


Zurück zu Inhalt