7. Tag, Langjökull

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Dieter Graser © 2006

Samstag, 9. Juli 2005


Sturm
Wetter besser - wenigstens weniger Schneefall. Ab und zu ein Ahnung von Sonne. Der Wind frisch bis stark - Schneefegen. Sicht 100 - 500 m wechselnd. Nach dem Frühstück versuche ich einen Gang nach draußen. Ich kann mich kaum bücken. Aller Optimismus ist weg. Wieder auf Knieen das Zelt auf der Leeseite soweit freigeschaufelt, daß es eine möglichst große, gut sichtbare rote Fläche bietet. Ich versuche zu gehen, aber mehr als ein Humpeln wird es nicht. Mein Rücken hat sich nicht gebessert. An Rucksack tragen und Pulka ziehen ist nicht zu denken. Ich weiß, ich komme aus eigener Kraft hier nicht weg. Ich bin im Moment sicher, aber sollte noch irgendetwas Unvorhergesehenes passieren, dann habe ich keine Reserve mehr um darauf zu reagieren und dann kann es eng werden. Also besser heute noch Hilfe anfordern, als noch lange warten.

Notsender
Die Entscheidung ist schmerzlich, aber ich habe keine andere Option mehr. Um 12:35 Uhr entferne ich das Siegel des Notsenders und lege ich Sendeschalter um. Ein rote LED beginnt zu blinken und eine kleine Sirene jault leise aber stetig vor sich hin. Jetzt also nehmen die Dinge ihren Lauf. Ich rechne mit einem Snowscootereinsatz. Nach Jaki sind es 18 km. Ich hoffe sie können meinen Sender anpeilen.

14:20 Uhr - habe soweit alles für eine Evakuierung hergerichtet. Den Sender habe ich jetzt an einem Ski befestigt. Das Gelände ist fast vollkommen flach und die Antenne befindet in über 2 m Höhe und kann so am besten abstrahlen. Habe zwei Novalgin gegen die Rückenschmerzen eingeworfen. Die Alarmpfeife liegt bereit. An einem der Skistöcke habe ich einen roten Packsack zum Winken befestigt. Horche auf Motorengeräusche, aber der Wind narrt mich. Versuche zu lesen.

18:05 Uhr. Höre plötzlich den Hubschrauber erst im Osten, dann im Westen, dann über mir. Auf einmal bin ich ganz aufgeregt und werde hektisch. Ich strecke den Kopf aus dem Zelt. Hey - hier bin ich! Nichts zu sehen. Das Geräusch verschwindet Richtung Jaki und ich höre wieder nur den Wind. Die Horizontalsicht beträgt höchstens 100 m, nach oben sind immer wieder leichte Strukturen erkennbar. Schneeschauer. Keine Landebedingungen.

Gehe noch mal hinaus um die Bedingungen zu prüfen und das Zelt von neuem Triftschnee zu befreien. Von Südosten gesehen ist das Zelt fast vollkommen von der Windschutzmauer verdeckt aber wenigstens von Westen her muß das Zelt muß jetzt so gut wie möglich sichtbar sein. Ich befinde mich etwas östlich der Firstes des Langjökulls und rechne damit, daß Hilfe am ehsten aus dieser Richtung kommt. Langsam entferne ich mich, in gerader Linie humplend, etwa 150 m vom Zelt um die Sichtweite besser abschätzen zu können. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sollte man es noch aus 200 m Entfernung als dunklen Schemen erkennen können.

Warten
Zurück ins Zelt und angekleidet in den Schlafsack gekrochen. Warten. Immer wieder versuche ich meine Situation kritisch und möglichst objektiv zu beurteilen. War es richtig den Alarm auszulösen? Tatsächlich bin ich jetzt, genau in diesem Moment, in keiner akuten Gefahr. Das Zelt ist stabil und in gutem Zustand. Ich bin warm und trocken darin geborgen. Meine Vorräte an Lebesmittel und Brennstoff reichen noch mindestens für 5 - 6 Tage. Dagegen steht, daß ich in meiner aktuellen körperlichen Verfassung mich nicht aus eigener Kraft auf den Rückweg machen kann. Bei einer weiteren Wetterverschlechterung wäre ich kaum in der Lage das Zelt vor dem zugedeckt werden zu schützen oder mir im Falles eines Bruches eine Schneehöhle zu graben.

Um 21:35 Uhr höre ich erneut Motorengeräusche. Ich meine, daß es wieder der Heli ist, aber ich bin mir nicht sicher, da der Wind um das Zelt einen gehörigen Lärm macht. Ich strecke den Kopf aus dem Zelt heraus und suche, soweit es meine eingeschränkte Beweglichket zuläßt, den Himmel ab - nichts als Schnee und jagende Nebel.

Plötzlich ein deutliches, sägendes Motorengeräusch und ich bemerke die Scheinwerfer von vier Motorschlitten die von Nordwesten auf das Zelt zuhalten. Die erste der vier dick vermummten Gestalten auf den Schlitten springt ab, öffnet das Visier von seinem Motorradhelm und sagt mit einem breiten Grinsen "Hi, I am Tóti - how are you?"

Rettungsmannschaft
Ich erkläre ihm kurz die Situation und während ich im Zelt den Schlafsack und die Isomatte verpacke schaufeln sie von außen das Zelt frei. Irgendwie komme ich noch in die Überhosen, ziehe mich dem Wetter entsprechend an und krieche aus dem Zelt. Draußen kann ich nur durch Tips helfen, wie man das Zelt "sturmgerecht" abbaut. Alle Ausrüstungsgegenstände werden geborgen. Selbst von den tief im Schnee vergrabebenen Spezialheringen bleibt keiner zurück. Ski, Rucksack und Pulka werde je auf einen Snowscooter verzurrt und ich werde auf den vierten gesetzt. Die GPS-Geräte der Motorschlitten werden auf "Backtracking" gestellt. Tóti übernimmt die Führung und bestimmt Kurs und Geschwindigkeit. Mit 40 - 50 km/h geht es ins weiße Nichts. Tóti richtet sich während der Fahrt immer wieder auf und dreht sich zu uns anderen um, um zu sehen, ob alle ihm folgen können. Obwohl die Oberfläche des Gletscher sehr eben ist, bekomme ich etliche Stöße schmerzhaft im Kreuz zu spüren. Einmal fährt Tótis Frau Žóršur nahe zu uns heran und hebt fragend den Daumen - alles in Ordnung? Ich antworte ebenfalls mit erhobenem Daumen und klammere mich dann wieder aun die beheizten Haltegriffe. Manchmal ist das Leitfahrzeug nur noch als grauer Schemen voraus auszumachen. Ich muß mich darauf beschränken, wie auf einem Motorrad "akitv" mitzufahren und den leichten Kurskorrekturen folgend entsprechend mein Gewicht nach rechts oder links zu verlagern. Im Nebel und Schneefegen taucht die rote Markierungsfahne der "2. Bunga" vor uns auf. Ab jetzt geht es bergab. Wir kreuzen die Auffahrtsspuren und langsam bessert sich die Sicht. Kurz vor dem Hundecamp gibt uns Tóti per Handzeichen zu verstehen, daß wir eine Gletscherspalte queren müssen. Langsam heranfahren, dann Gas geben und mit einem Ruck versuchen den Lenker hochzureißen. Die Spalte war etwa einen halben Meter breit. Die letzten Kilometer über das raue, bucklige und von Schmelzwasserrinnen durchzogene Eis sind ziemlich unangenehm und als ich schließlich von dem Snowscooter absteigen darf brauche ich Hilfestellung. Vornübergebeugt wie ein alter Mann kann ich mich bei meinem Fahrer bedanken.

Unter etlichen Witzchen werde ich in den Jeep Tótis gesetzt und nachdem alle Snowscooter verstaut sind machen wir uns auf die Fahrt nach Borganes. Žóršur reicht mir sogar eine Dose Bier zur Aufmunterung nach vorn. Wir kommen nach Mitternacht in Borganes an wo auf der Polizeistation das Protokoll aufgenommen wird. Auf meine Frage ob die Polizei nicht nähere Angaben zur Versicherung usw. wegen der Kosten der Bergung braucht, wird abgewunken. Dann bringen sie mich noch zum nahen Zeltplatz der Gemeinde. Žóršur und Tóti haben noch ein gutes Stück nach Hause. Ein anderer des Teams hilft mir beim Zelt aufbauen. Als ich ihn nach seinem Namen frage antwortet er "Jökull Fönn" - "Gletscher Schnee" - das paßt für den heutigen Tag sage ich. Daraufhin erzählt er, daß sein Vater am Tag seine seiner Geburt auf einem Gletscher eingeschneit festsaß - daher sein Name.


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