4. Tag
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4. Tag; Geldingafell - Eyjabakki

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Copyright © Dieter Graser

Mittwoch 5. August 1998

Erstaunlich für eine Hüttennacht habe ich ungestört und gut geschlafen. Um sieben stehe ich leise auf und suche langsam meine Sachen zusammen. Keine leichte Aufgabe bei dem Chaos im Vorraum. Um 8:00 Uhr faucht dann mein Kocher in der Küche, aber das stört niemanden - alle schlafen noch tief und fest. Draußen hat der Wind etwas nachgelassen, kein Regen und die Sicht ist gut. Der Südwind hat sich wohl durchgesetzt und damit wird es auf der Nordseite des Vatnajökull Föhn geben. Mangels Kleingeld hinterlasse ich in der Hüttenkasse einen Eurocheque. Der Führer der Gruppe blinzelt verschlafen aus seinem Schlafsack und wünscht mir viel Erfolg. Danke - kann ich brauchen.

Kurz nach 9:00 Uhr gehe ich endlich los. Mache noch schnell ein Photo von der Hütte und gehe dann immer hübsch am orographisch rechten Ufer der Blandá entlang flußauf. Die einstimmige Empfehlung lautete diesen und die folgenden Bäche möglichst weit in ihrem Oberlauf auf Schneebrücken zu überqueren oder auf dem Eis zu umgehen. Zumindest auf den ersten Kilometern hätte ich das noch nicht so beherzigen brauchen, denn ich handle mir dadurch etliche Höhenmeter und Umwege zuviel ein. Auf einem ersten kleinen Gletscherausläufer habe ich dann die Gelegenheit die Grödel einzusetzen. Sie geben hervorragend Halt und ich kann so zügig das Eisfeld queren. Wegmarkierungen gibt es keine und die 1:100.000er Karte ist in diesem Gebiet ziemlich ungenau. Ich bin meinem Gefühl nach zu hoch am Berg. Das erste Eisfeld hat mir zwar einiges an Bächen und auf und ab erspart aber quer zu meiner Wegrichtung verläuft ein felsiger Gratrücken der mir die Sicht nach Westen versperrt. Ihn oben umgehen? Der Isländer sagte: "Immer möglichst weit oben queren". Aber meinte er auch diesen Rücken? Ich beschließe mich an mein GPS zu halten. Die gespeicherte Route verläuft weiter unten Richtung Westen. Schräg bergab geht es sich mit den Grödeln ausgesprochen flott. Ab und zu ein weiter Schritt über einen der Schmelzwasserbäche, die sich in das tiefblaue Eis eingeschnitten haben. Wieder im Moränenschutt umgehe ich den Fuß des Gratrückens und komme an seiner Westseite zu einer kleinen Schlucht. Zuverlässige Schneebrücken gibt es keine, also Schuhe aus und furten.

Das Wetter hat sich seit meinem Aufbruch zunehmend gebessert. Zwar weht immer noch ein kräftiger und kalter Wind den Gletscher herunter aber ich habe viel Sonne und eine ausgezeichnete Fernsicht. Nach dem Furten kurze Pause. Der Bach ist Als "Ytri Bergkvísl" in den GPS Daten vermerkt, dann folgt der Wegpunkt "á melum" was soviel bedeutet wie "auf dem Steinpflaster", nach diesem der Punkt "á jafnslettu" - in der Verebnung im Gletschervorfeld des nächsten Eisfeldes. Dieses steht hinter seiner flachen, konvexen Wölbung irgendwo mit der riesigen Eismasse des Vatnajökull in Verbindung. Mit dem Kompaß peile ich den nächsten Wegpunkt "Kvislarjökull" an. Er liegt oberhalb eines zweiten Felsrückens, der die westliche Begrenzung des Eisfeldes südlich vor mir bildet. Also, dieser Rücken muß "oben" umgangen werden da auf seiner Rückseite eine tiefe Schlucht liegt.

Am Eisrand lege ich wieder die Grödel an und gehe langsam, schräg den flachen Gletscher hinauf. Auch hier ist das Eis spaltenfrei. Viel Schmelzwasser kommt den Gletscher herunter und bildet auf dem Eis kleine Bäche die manchmal tief eingeschnitten sind und plötzlich in senkrechten, türkisen Schächten verschwinden. Kein Problem, ein weiter Schritt genügt auch hier. Je höher ich steige um so öfter sind diese Bäche von vereistem Altschnee überdeckt und bilden ein weißes, mäandrierendes Band auf dem bläulichen von feinem, schwarzen Gesteinschutt durchsetzten Eis. Durch diesen Schneedeckel hört man es gurgeln und rauschen. Oft muß ich nun eine schmale Stelle suchen an der ich diese etwas trügerischen Schneebänder überschreiten kann ohne in Gefahr zu laufen einzubrechen. Mit zunehmender Höhe bedeckt schließlich eine geschlossene Altschneedecke das Eis und die Schmelzwasserbäche stellen kein Hindernis mehr dar. Allerdings ist der Schnee weich und mühsam zu Gehen. Immer leicht schräg bergauf halte ich auf die Stelle zu an welcher der Felsrücken nach oben unter dem Eis verschwindet. Der Anstieg zieht sich und ich bin gespannt was für ein Ausblick sich von dort oben wohl auftun wird. Nach mehreren Verschnaufpausen erreiche ich die obersten vom Schmelzwasser gesättigten, flachen Moränen. Man muß aufpassen, daß man mit nicht mitsamt dem Stein, auf den man tritt im Schlamm versinkt.

Brúarjökull, Kverkfjöll

Mit dem Überschreiten des flachen Grates wird endlich der Blick nach Westen frei. Ich stehe etwa 300 m über dem Nordrand des Vatnajökull. Der weitgeschwungene Bogen des Brúarjökull zieht sich bis zum Fuß der Kverkfjöll 50 km weiter westlich. Die Sicht ist absolut klar und zerzauste Leewolken lassen ihre Schatten über die unwirklichen Schnee- und Eisflächen segeln. Zu meinen Füßen greift der breite Strom des Eyjabakkajökull weit nach Norden in das Vorland hinaus. Die Gletscherzunge verebbt ein gutes Stück vor den mächtigen Schüttungen einer Endmoräne, die er bei seinem letzten Vorstoß aufgeschoben hat. Die Schmelzwassermassen durchbrechen die Wälle und breiten sich der weiten, grünen Ebene des Eyjabakkar aus. Im Nordwesten dominiert das isolierte Massiv des Snæfell, des "Schneeberges", mit 1883 m der höchste Berg Islands außerhalb der großen Eiskappen. Lange sitze ich am Wegpunkt "í fönn" (im Schneefeld) auf einem Stein, trinke heißen Tee aus der Thermosflasche und lasse die Augen über diese einzigartige Landschaft wandern. Soweit ich schauen kann, nirgendwo ein Anzeichen von menschlichem Wirken. Keine Straßen, keine Bauwerke keine Nutzung. Nicht mehr lange und das weite Tal vor dem Eyjabakkajökull wird in einem riesigen Stausee versunken sein. Und wie lange wird es dann dauern bis die Schuttmassen der Jökulsá í Fljótsdal diesen flachen See verlanden lassen? Wie wird es hier in 100 Jahren aussehen? Die weiten Sumpf-, Gras- und Heideflächen des Eyjabakkar, mit ihrer in Island einzigartigen Vegetation und Vogelwelt, werden verschwunden sein.

Eyjabakkar, Snæfell

Der kalte Wind mahnt die Pause abzubrechen und sich wieder Bewegung zu verschaffen. Zum nächsten Wegpunkt quere ich in südwestlicher Richtung, leicht bergab über ein weiteres Firnfeld das in einem steilwandigen Tal endet. Ein schöner Wasserfall stürzt über die rechte Talflanke und erklärt nun den Namen dieses Wegpunktes "ofan foss" (über dem Wasserfall). Weiter unten, vor der Mündung des Tales gelb- und ockerfarbene Liparithügel und ein kleiner, tief türkisfarbener See in den Seitenmoränen des Eyjabakkajökull. Die Umgehung des schluchtartigen Tales und die phantastische Aussicht sind wohl der Grund warum sich dieser Weg über die Höhe eingebürgert hat. Auf dem Schneefeld finde ich die Spuren der Gruppe, die ich gestern auf der Hütte traf. Der Schnee wird weicher und nässer, je tiefer ich komme und geht schließlich in einen Schneesumpf über bevor das Wasser frei über das Eis abfließt. An einer altschneebedeckten Schmelzwasserrinne, über welche die Spuren vom Vortag einfach hinweg führen, stochere ich mit dem Skistock mehrfach nach und breche prompt durch. Erstaunlich, daß hier gestern niemand eingebrochen ist! Ich umgehe diese Schmelzwasserrinne etwa 100 m oberhalb.

Nach dem Schneefeld steigt man steil am rechten Rand einer auffallenden Schlucht zum Rand des Eyjabakkajökull hinunter. Der inzwischen stürmische Südwind erleichtert das Gehen in dem steilen Gelände nicht gerade. Im Abstieg hat man einen hervorragende Überblick über den östlichen Eisrand. Etwa auf der Höhe der Schlucht bricht ein reißender, schmutziggrauer Gletscherbach unter dem Eis hervor und fließt dann weiter zwischen Eisrand und Moräne nach Norden. Hier ist also kein Aufstieg möglich. Über dem Gletschertor ist das Eis großflächig eingestürzt und stark zerklüftet. Etwa 100 m oberhalb, also südlich der Schlucht, läuft das Eis aber in einem nur mäßig geneigten Hang in die Seitenmoräne aus ohne daß ein Gletscherbach einem den Zugang verwehren würde. Der Blick über den etwa 4 km breiten Gletscher bestätigt die Aussagen der Isländer. Das Eis ist fast eben und kaum von Spalten durchzogen. Über den Bach am Ende der Schlucht helfen mir ein paar große Steine. Die Seitenmoräne ist eine feuchte und nachgiebige Angelegenheit aus der ich mich mit ein paar schnellen Schritten auf das feste Eis rette.

Eyjabakkajökull

So, da wäre ich. Es ist inzwischen 16:00 Uhr, aber das Wetter ist immer noch stabil. Erst den Rucksack ab, Grödel angelegt und mit dem GPS die Position bestimmt und abgespeichert. Die Grödel und die Skistöcke geben sicheren Halt im doch ziemlich steilen Eishang. Der Eispickel ist aber nicht von Nöten und bleibt am Rucksack. Ein paar Randspalten lassen sich sicher überschreiten. Nach etwa 20 -30 Höhenmeter neigt sich der Eishang langsam zurück und ich habe die Fläche des Eisstromes erreicht. Siehe Anmerkung Das Eis ist grobkörnig und mit feinem Schutt durchsetzt. Die Oberfläche ist teils buckelig, teils rippig und von verheilten Spalten durchzogen. Immer wieder stoße ich auf hübsch mäandrierende Schmelzwasserbäche die dann in unglaublich blauen Schächten mit bodenlos schwarzem Grund verschwinden. Ein kalter Gletscherwind weht vom Vatnajökull herunter aber die Sonne scheint und wieder einmal habe ich pfast perfektes Wetter genau dann, wann ich es am besten brauchen kann. Ich könnte jubeln vor Freude und Glück!

Eyjabakkajökull

Es geht flott voran. Zumindest besser als auf all dem groben Blockwerk der letzten 2 Tage. Es ist gegen 17:00 Uhr und ich spüre den langen Tag in den Knochen. Kurze Pause etwa in der Mitte des Gletschers. Überall gluckert und plätschert es - Vatnajökull - der Wassergletscher. Oberhalb einer auffallenden Mittelmoräne besteht die Eisoberfläche aus etwa 30-50 cm hohen Längsrippen die sich dann aber wieder zu Buckel auflösen und flacher werden. Zu Eisrand hin nimmt die Zahl und Größe des Eisbäche wieder zu und ich komme an einigen großen Schächten vorbei. Auch sie scheinbar grundlos tief. Der Abstieg vom Eis ist fast eben und unproblematisch, wenn man davon absieht, daß der Rand ziemlich unterhöhlt ist. Erholungspause am Fuß der mächtigen Seitenmoräne.

Ich verstaue die Grödel wieder und überlege den weiteren Weg. Es ist jetzt 18:00 Uhr und es wird Zeit demnächst einen Platz für das Zelt zu finden. Der Normalweg führt von hier aus nach Westen südlich an den Vorbergen des Snæfells vorbei zu einer Piste über die man dann nach Norden zur Snæfellhütte gelangt. Normalweg deshalb, weil die Tour meistens in Gegenrichtung begangen wird und man sich auf der Piste bis nahe an den Gletscher fahren läßt. So lassen sich die 32 km zwischen den beiden Hütten ordentlich verkürzen und die Etappe wird auch in einem Tag und ohne Zelt machbar. Ich werde sowieso 2 Tage brauchen, also kann ich einen direkteren und wie man mir versicherte auch schöneren Weg durch das Þjófadalur, direkt südlich des Snæfells nehmen. Am Fuß der Þjófahnjúkar hoffe ich einen klaren Bach und einen grasigen Zeltplatz zu finden. Noch 3-4 km sind es bis dorthin. Also erstmal Richtung Norden aus den Moränen heraus. Die inneren Wälle bestehen noch aus lockerem Material, das unter jedem Tritt nachgibt und wegbricht. Obwohl der Tag anstrengend war scheine ich meine Kondition wiedergefunden zu haben, merke aber jetzt wie die Konzentration langsam nachläßt und sich leichte Fehltritte häufen.

Die Weite des Gletschervorlandes ist beeindruckend. Langsam komme ich in flachere, ältere Moränen mit dichterem Bewuchs und Moorschlenken in den Vertiefungen. Die Gletscherzuge des Eyjabakkajökull läuft etwa 2 km weiter östlich flach und unspektakulär aus. In einer vorgelagerten Endmoräne ist deutlich eine blendendweiße Eiswand eines riesigen Toteisblocks zu erkennen. Auf einer markanten Terassenkante steht ein große Steinwarte. Die Nordrichtung ist durch einen besonders herausragenden Stein gekennzeichnet. Ich folge auf der Terrasse einer kleinen Klamm bis diese auf die weite Ebene des Sanders ausläuft. Von Westen her hat sich ein größerer Bach eine Schlucht gegraben welche mir nur den Weiterweg versperrt. Aber dort wo die Schlucht sich trichterförmig zur Ebene öffnet, entdecke ich in ihr einen schönen, geschützten Zeltplatz. Nach etwas Suchen findet sich auch guter Abstieg in die Schlucht und baue unten das Zelt auf. Vor dem Gletscherwind bin ich durch eine etwa 10m hohe Felswand geschützt. Es ist 20:30 Uhr als das Zelt schließlich steht und eingeräumt ist. Gekocht und noch etwas gelesen. Da die gestrigen Aufzeichnungen schon wegen "Hüttenunruhe" und mangels Platz verschoben werden mußten vertröste ich mich auf morgen und den Ruhetag am Snæfell.

Anmerkung:
Erik van de Perre schreibt in seinem Trekkingführer über die Überquerung des Eyjabakkajökulls: "Galten die Gletscher entlang der Route früher als unproblematisch, so hat sich deren Charakter aufgrund mehrerer warmer, schneearmer Winter in den letzten Jahren gravierend geändert. So führte die die Route im Sommer 1997 nicht mehr wie früher über griffigen Schnee sondern über blankes Eis. Im Sommer 1998 hat sich die Situation sogar noch weiter verschlechtert." (S. 99 und ähnlich auf S. 206) Diese Darstellung legt dem Leser nahe, daß ein schneebedeckter Gletscher sicherer sei, als einer mit "blankem" Eis. Diese Darstellung ist nicht nur falsch, sonder auch gefährlich! Eine Schneedecke, von der man nicht wissen kann wie dick und tragfähig sie ist, kann gefährliche Spalten überdecken. Auf einem Gletscher bedeutet sie deshalb immer eine mögliche, schwer, oder oft nicht erkennbare Gefahr! Das Eis des Eyjabakkajökull erwies sich 1998 auf der üblichen Route als sehr griffig und spaltenarm. Die wenigen Spalten und Schmelzwasserschächte waren gut zu erkennen und konnten umgangen werden. Von einer Verschlechterung der Verhältnisse kann also nicht die Rede sein.
Es liegt in der Natur der Gletscher, daß diese in ihrem "Zehrgebiet" im Sommer nicht von Schnee bedeckt sind. "Blankes" Eis ist in der Höhenlage der Gletscherzunge des Eyjabakkajökulls während der Sommermonate der Normalfall und keine Ausnahme.
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