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2. Tag; Skógar - Fimmvöršuháls

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Copyright © Dieter Graser

Samstag, 27. Juli 1996

Nachts wieder viel Lärm und Gegröle auf der Straße. Wie tot geschlafen, aber zu früh aufgewacht (4:00 Uhr) - die innere Uhr läuft doch noch etwas anders. Das Wetter ist grau, tiefe Wolken hängen über der Stadt und die Straßen sind regennaß.

Nach dem Frühstück mit dem Taxi zum Busterminal. Dort meine diversen Packete aufgegeben und eine Fahrkarte nach Skógar besorgt. Inzwischen trudeln mehr und mehr Fahrgäste ein. Neben den üblichen Touristen auch rucksackbewehrte Isländer die sich in Gruppen zusammenfinden. In dem noch nicht geschlossenen Gepäckraum des Busses nach Þorsmörk sehe ich meinen großen wasserdichten Packsack mit dem Zelt, Isomatte und Futter für die Tour nach Landmannalaugar. Im vollem Bus dann Fahrt Richtung Skógar. Neben mir ein etwa 17jähriger Isländer - total übermüdet - er hat die letzte Nacht in Reykjavík durchgemacht. Zwischendurch sackt ihm immer wieder sein Kopf auf meine Schulter - "Jæja!" Während der Fahrt geht ein kleiner, hagerer Isländer mit abenteuerlich verschlissenen Bergschuhen, schwarzen Leggings, darüber khaki Shorts und einem schwarzen Schlapphut an dem das Abzeichen des Wandervereins Útivíst steckt, durch die Reihen. Dann hält er eine kurze Einführungsrede an die Mitglieder seiner Gruppe. Aus dem was ich verstehen kann entnehme ich, daß sie das gleiche Ziel haben wie ich, nämlich die Hütte auf dem Fimmvörðuháls. Von Hella aus Fernsicht in das Tal von Þórsmörk auf Eyafjallajökull und Mýrdalsjökull. Über den Gletschern blauer Himmel - ich wage zu hoffen. Ab Seljandafoss dann wirklich Sonne und schönstes Wetter! Bingo - endlich wieder mal. Zum vierten Mal fahre ich jetzt hier an der Südküste entlang, aber zum ersten Mal sehe ich den Eyafjallajökull und den Mýrdalsjökull.

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(46 KB)Skógafoss

In Skógar verlasse ich den Bus, schultere den Rucksack und lasse die Isländer sich sammeln während ich über die Wiesen hinüber zum Skógafoss gehe. Postkartenwetter und Postkartenwasserfall - was für ein Bild für das Startphoto. Dann stelle ich den Rucksack und die Stöcke richtig ein und binde die Schuhe noch mal fest. Es ist Mittag. Mein Tagesziel, die Fimmvörðuháls-Hütte liegt eintausend Meter höher in dem flachen Einschnitt zwischen Eyafjallajökull und Mýrdalsjökull. Allerdings sind es 12 km Luftlinie bis zur Hütte, der Anstieg verläuft also relativ flach und mein Rucksack ist deutlich leichter ohne die Zeltausrüstung. Doch die ersten 50 Höhenmeter, gleich rechts neben den Wasserfall, sind gemein steil. Drei Wochen habe ich noch vor mir und schon nach 5 Minuten ist der Puls auf vollen Touren. Eine junge Schweizerin begleitet mich den Weg entlang der Skógá. Ein Wasserfall schöner als der andere, jeder einzigartig. Diese Wasserfälle sind meiner Meinung nach noch schöner als der berühmte Skógafoss selbst, vielleicht weil er in seiner perfekten Symmetrie einfach zu "akademisch" wirkt. Die Unterhaltung mit der Schweizerin verkürzt die erste Stunde der Tour - ich werde noch genug Einsamkeit bekommen.

Nach etwa einer Stunde bleibt mein Begleitung zurück und ich bin allein. Das Frühstück ist schon lange her und ich habe einen ordentlichen Hunger. Rast am Bach. Beim Film wechseln eine neue Variante meines alljährlichen und scheinbar unvermeidlichen Malheurs mit dem Photo. Ich habe vergessen den Film zurückzuspulen bevor ich die Kamera geöffnet habe! Jetzt kann ich vier Wochen lang raten, wieviel nicht wiederholbare Bilder mir verlorengegangen sind. Zum Trost erwartet mich etwas höher noch ein Wasserfall der Sonderklasse, der Lichteinfall ist zu dieser Stunde perfekt. Und ich nehme mir Zeit und Muße um ihn abzulichten. Mein Opfer habe ich ja schon dargebracht.

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(61 KB)Skógá

Schließlich erreicht der Pfad eine Fußgängerbrücke und den Fahrweg, dem ich nun weiter folge. Die Vegtation ist zurückgeblieben oder hat spärlichen Moospolstern und Flechten im Geröll Platz gemacht. Weit, weit voraus sind oben schon die beiden Hütten zu erkennen. Es wird noch dauern bis dorthin. Eine Gruppe Mountainbiker sticht in rasender Fahrt über die Schotterstraße herunter. Mein Respekt vor ihrer Sportlichkeit schmilzt, als ihnen wenig später der Unimog folgt, der sie wohl nur für die Abfahrt hinaufgefahren hat! Ansonsten bin ich allein unterwegs - wo sind denn die Isländer aus dem Bus geblieben? Der Aufstieg zieht sich, aber die Aussicht entschädigt für alle Mühen. Ich habe Zeit und ich lasse sie mir auch. Was soll ich pingelig sein, es ist ja erst der erste Tag. Während unten teilweise ein ziemlich kühler Wind ging, fehlt dieser hier oben und der Schweiß fließt in Strömen. In etwas weiterer Entfernung der Straße hohe, gelbe Plastikpfähle, die offensichtlich die Route im Winter kennzeichnen sollen. Den letzten Kilometer zur ersten Hütte Baldvinskáli kürzt ein Trampelpfad durch Geröll und Blockwerk, eine weite Schleife der Fahrstraße ab.

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(64 KB)Baldvinskáli;

An der Hütte ein Jeep der eine Wagenladung Rucksäcke für eine Wanderergruppe herauftransportiert hat. Auf seiner Ladefläche sind auch drei große Milchkannen für den Trinkwassertransport festgezurrt. Ich stelle meinen Rucksack ab und starte ein kurze Besichtigung. Ganz schön spartanisch. Der Hauptraum scheint nur aus drei zusammengestellten Tischen, den dazugehörigen Stühlen und einer auf einer großen Gasflasche montierten Heizsonne zu bestehen. Das Matratzenlager befindet sich im Obergeschoß der Tobleroneschachtel. Ich verzichte auf eine weitere Erkundung und bin neugierig auf die (neuere) Hütte der Konkurrenz Útivist. Zuerst jedoch ein kurzer Abstieg auf ein weites, flaches Firnfeld das vor dem letzten Aufschwung zum Fimmvörðuháls liegt. Ich gehe den Anstieg zur nächsten Hütte auf dem direkten Weg an. Die Pfadspur durch das feine Geröll des letzten Hanges verlangt noch einmal solide Atemtechnik, aber sie führt zügig zum Ziel.

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(64 KB)Fimmvörðuhálsskáli

Es ist Spätnachmittag. Die Hütte steht auf einem West-Ost verlaufendem Grat der die kleinere Gletscherkuppel des Eyafjallajökull mit der größeren, etwa 30 km duchmessenden des Mýrdaljökulls verbindet. Ihre Ausläufer vermischen sich in den weiten, flachen Firnfeldern nördlich des Grates. Eine tiefe Wolkendecke unter mir, vielleicht ist es auch hochreichender Seenebel, verdeckt nun den Blick auf die nahe Küste im Süden. Auf der Plattform im windgeschützten Südwinkel der mit Liebe gestalteten Holzhütte ein Tisch und zwei Bänke. Die Hütte ist geschlossen und einige Riegel müssen geöffnet werden. Der Innenraum ist ebenso freundlich wie einladend, aber draußen kann man noch ein, zwei Stunden in der Sonne sitzen! Von der Baldvinskáli her nähert sich langsam und weit auseinandergezogen eine Gruppe von Wanderern über das Firnfeld. Das sind sicher die Útivist Leute, die mit mir im Bus waren. Lange wird meine Einsamkeit hier also nicht mehr dauern. Ich bin froh, daß ich meine Reservierung schriftlich bestätigt bekommen habe.

Langsam trudeln die Isländer einer nach dem anderen ein. "Góðan daginn!" Ihr Führer mit seinem schwarzen Schlapphut macht zwar mit seinem Aufzug einen etwas kasperlhaften Eindruck, aber der Kerl mit seinem eisgrauen Bart sieht verflucht drahtig und zäh aus! Er teilt mir gleich nach der Begrüßung schon mal vorsorglich mit, daß die Hütte ausgebucht sei, und ich hier wohl kaum übernachten könne. Das kann schon sein, erwidere ich, aber ich habe eine Buchung. Das sei unmöglich und er möchte die Buchung bitte sehen. Ich übergebe ihm ruhig den schon bereitgelegten Schrieb. "Do you know Heiðar Guðjónson?" - "Yes, this guy is always overbooking, but no problem, we will find a place!" Na also, es lebe das Internet. Der Graubart schnappt sich gleich eine Schaufel und einen großen Edelstahltopf und geht hinunter auf das Schneefeld. Die vom eingewehten Staub verschmutzte Oberflächenschicht schaufelt er weg und holt dann aus dem Loch sauberen Firn. Er presst so viel wie geht in den Topf, streicht ihn dann glatt und setzt dann noch einen abgeschrägten Schneezylinder darauf. - der Mann weiß wie und was er macht. Ich nehme den "Kasperl" zurück. Ich sitze weiter in der Abendsonne, genieße den Blick auf den Eyafjallajökull, der von hier aus eine phantastische Skitour abgeben müßte (!) und beginne mit den heutigen Aufzeichnungen.

Schließlich beteilige ich mich am allgemeinen Kochen und setze mir ein Risi-Bisi an. Es mangelt an Sitzplätzen, aber irgendwie arangiert man sich. Am Ende bietet mir eine der Frauen noch übrigen Kartoffelsalat an - orig. isl. "kartöfflursalat"! Später, so gegen 22:00 Uhr, dann Aufbruch zu einem Kvöldgöngur (Abendspaziergang). Ich bin herzlich eingeladen. Zuerst geht es auf dem Felsrücken, auf dem die Hütte steht nach Westen zu einem Platz auf dem tatsächlich 5 Steinwarten zu erkennen sind - nicht besonders auffällig, aber immerhin. Aber auch der Führer ist sich nicht ganz klar darüber, was zuerst da war, der Name "Fimmvörðurháls" (Fünfwartenpaß) oder diese Warten hier. Von dort aus geht es über die weiten Firnfelder der Hochebene die den Paß bildet zum Miðsker. Rechtzeitig zum Sonnenuntergang sind wir auf diesem kleinen Gipfel. Unter uns, über dem Tal der Þórsmörk ein unruhiges, dunkelblaues Wolkenmeer aus dem sich wie Gischt einzelne, rosa angestrahlte Nebelfetzen lösen. Blick zum Tindfjallajökull im Westen und im Osten die Gletscherabbrüche des Mýrdalsjökull im letzten Licht der Sonne. Ich habe schon viel gesehen in Island, aber dieses Bild zählt zum Besten. Im Süden steht der Vollmond über der Hütte, aber es ist wird nur leicht dämmrig. Vom Meer her ist eine fliederfarbene Wolkendecke bis knapp unterhalb der Baldvinskáli gestiegen. Das Mondlicht spiegelt sich dort unwirklich in kleinen Schmelzwasserbächen.

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(64 KB)Fimmvörðuháls Mýrdalsjökull

Viele nette Gespräche schließen den Abendgang ab. In der Hütte werden ein paar Kerzen angezündet und man trinkt heißen Kakao, der je nach Gusto mit Rum verlängert wird. Der Kernige mit dem Schlapphut heißt Jósef, und erzählt kurz von seiner diesjährigen Winterdurchquerung des Sprengisandurs und wie der dann im Süden in einer dreitätigen Sintflut steckenblieb. Er war ganz schön erstaunt daß ich wußte, daß man ihn dann rausholen mußte. Ich hatte seine Geschichte in den "Daily News of Iceland" im Internet gelesen! Irgendwie verstanden wir uns dann immer besser.

Finde nach Mitternacht einen freien Platz im oberen Matratzenlager und bald habe ich eine plausible Erklärung dafür, warum es in Island keine Bäume mehr gibt - bei der Sägerei! "Hüttenromantik" pur - ich weiß schon, warum ich am liebsten mit dem Zelt reise. Wenigstens hatte ich den Kopf am offenen Fenster und ab und zu kam ein Schwall frischer Bergluft herein.


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3. Tag: Fimmvöršuháls - Žórsmörk