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9. Tag, Brúarjökull

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Copyright © 2003 Dieter Graser

Freitag, 25. Juli 2003


In der Nacht hatte es kurz aufgehört zu regnen - nur noch Nebelnieseln war zu hören. Um 6:00 Uhr wieder Regen. Stelle grunzend den Wecker ab und schlafe weiter. Frühstück um halb neun. Heute mal wieder das "Frühstücksphänomen": während ich mein Müsli kaue hört der Regen auf! Unter der Isomatte ist alles naß - Kondensfeuchtigkeit. Mühsames Abbauen des Zeltes. Der Boden quitscht vor Nässe.

Ötzi?
Aufbruch um 10:00 Uhr. Stolpere durch die Moränenblöcke hinunter zum Schneekragen des Gletschers. Setze mich auf einem Felsblock am Schneerand und mache mich gletscherfein. Grödel an, Brille auf, Lippen eingeschmiert, Pickel "entsichert" und griffbereit an den Hüftgurt und dann los. Schräg nach rechts hinauf, bis ich den Schneekragen hinter mir habe und die Grödel in körniges, schmutziges Eis knirschen. Die Eisoberfläche ist frei von Steinen. Immer wieder kleine Schmelzwasserbäche, die sich ins Eis eingegraben haben aber keine Spalten. Das Wetter bessert sich. Die Sicht auf die Kverkfjöll ist frei und ich brauche jetzt die nächsten zwei Tage eigentlich nur gerade auf sie zuhalten. Das Eis ist bucklig und anstrengend zu gehen wie eine Žúfur-Heide. Entdecke einen Knochen auf dem Eis. Schaf, Rentier, Pferd oder Touri? Von der Größe her doch eher von einem Schaf. Aber wie kommt der Knochen hier her?

Mit der Sonne kommt der Wind, der nun kalt vom Vatnajökull herunter weht. Brauche nun Anorak und Handschuhe. Die Schmelzwasserbäche werden häufiger. Alle 50 Meter ein größerer und alle paar Schritte ein kleinerer Bach. Ich habe eher das Gefühl über einen auftauenden Fluß, als über einen Gletscher zu wandern. Nun haben die Bäche auch immer häufiger Schneeränder - das sind die ganz heimtückischen! Dieser Schnee ist wassergesättigt und man kann hervorragend in ihm "versumpfen". Das Auge kann nicht zwischen "Sumpf" und "Fest" unterscheiden. Immer wieder muß mit den Stöcken sondiert werden. Schließlich gibt es dann noch Bäche die ganz mit Schnee bedeckt sind. Man erkennt sie als weißes Band in schmutzigen Eis und hört sie dumpf gurgeln - sehr vertrauenserweckend! Ich diesen Schneebändern entlang und suche nach ihrer schmalsten Stelle. Hier ist der unsichtbare Bach am tiefsten aber die Randzonen am trockensten und stabilsten. Also sondieren, vortasten, die Schneekruste über dem frei fließenden Wasser trägt ganz sicher nicht. Also einen weiten Schritt auf die gegenüberliegende (hoffentlich) fest Randzone und - Ufff - endlich wieder auf festem Eis. Vatnajökull - Wassergletscher.

... beinahe
Mehr und mehr Umwege werden nötig. Immer wieder versackt ein Stiefel im Schneesumpf. Unvorsichtig trete ich einmal, ohne vorher zu sondieren, von Eis auf Schnee und breche ein. Lasse mich reflexartig nach hinten fallen und komme auf dem Eisrand zu liegen. Wer weiß wie tief sich der Bach eingegraben hat? Schließlich ein Bach über den ich kein Übergang finde. Auf der Suche nach einer möglichst schmalen Stelle gehe weiter bachaufwärts. Der Rinne des Baches ist nur einen etwa 1,5 Meter tief und die konvexen Ränder liegen etwa 2-3 Meter auseinander. Das Wasser schießt in einem halbreisförmigen, vollkommen glatten Eiskanal, der perfekt einer Bobbahn, oder einer Wasserrutsche in einem Erlebnisbad gleicht, in leichten Schwingungen geltscherabwärts. An der engsten Stelle, die ich finden kann, glaube ich hinüberspringen zu können - aber nur ohne Rucksack! Also, was bleibt mir anderes übrig, als diesen hinüber zu werfen? Ich setze eine Eisschraube, hänge den Rucksack zur Sicherung an eine Reepschnur und schleudere die 30 kg so gut es eben geht hinüber - fast nicht gut genug - fast nicht weit genug! Der Rucksack hängt beängstigend schräg an der gegenüberliegenden Eiskannte und es sieht so aus als könnte er jeden Moment in den Bach rutschen. Hektisch versuche ich die Eisschraube wieder herauszudrehen, habe aber vergessen den Karabiner, in dem die Reepschnur eingeängt ist, vorher auszuklinken und wickle die Reepschnur dabei zu einem gordischen Knoten auf. Irgendwie kriege ich ihn frei, schnappe meine Phototasche und springe mit kurzen Anlauf, die Reepschnur fest in der Hand, in einem weiten Satz über den Bach. Dank der Grödel kann ich mich darauf verlassen, daß ich nicht abrutschen werde. Halbliegend neben meinem Rucksack und die Reepschnur nun kurzgefaßt mache ich ein Bild von dessen Lage. Das bin ich ihm schuldig. So behandelt man nicht einen "Greg"!

Es ist jetzt 17:00 Uhr. Ich beschließe noch eine Stunde zu gehen. Die Möglichkeiten ein Zelt aufzustellen sind eher bescheiden. Aus einiger Entfernung erscheint die Oberfläche des Gletschers eben zu sein, tatsächlich ist sie aber rauh und bucklig wie eine Elephantenhaut. Endlich wird die Oberfläche etwas ebener und es gibt mehr Schnee auf dem Eis. Aber dieser hat eine neue Gemeinheit auf Lager. Bei jeden fünften bis zehnten Schritt breche ich mit einem Fuß durch eine dünne Eiskruste und stehe mit dem Stiefel halb im drunterfließenden Schmelzwasser.

Eisschraube
Um 18:15 Uhr habe ich genug. Ich komme an einem trockenen und ebenen Platz vorbei und kann diesem Angebot nicht widerstehen. Eine wenige Zentimeter dünne, körnige Schneeauflage gleicht die Unebenheiten aus. Ich rolle das Zelt aus und bohre mit der Eisschraube Löcher für die Sandheringe, die den gleichen Durchmesser wie die Schraube haben. Die scharfen Zähne der Eisschraube fressen sich wie in Butter in das Eis. Mit der großen Kurbel geht das spielend leicht. Ich stecke die Sandheringe in die Löcher, lege die Abspannleinen um sie und trete sie noch mit dem Siefelabsatz fest. Durch den leichten Zug der Abspannleinen verkeilen sich die Heringe in den Bohrlöchern und erfüllen somit ihre Aufgabe. Wenn ich die Löcher etwa in einem Winkel von 80° zur Zugrichtung bohre halten die Heringe am besten. Während der Vorbereitungen zu dieser Tour habe ich die Frage "Wie bekommt man Zeltheringe in Gletschereis?" in der Newsgroup de.rec.alpinismus gestellt und nach "einschlägigen" Erfahrungen gefragt. Entsprechend neugierig war ich auf den Praxistest.

Zeltplatz
Mein Zelt steht in der Sonne und ich lasse den Schlafsack auslüften. Zwei, drei Mal höre ich von Westen ein eigenartiges Donnern - was war denn das? Finde aber andere Erklärung als ein Abbrechen von Eis am Gletscherrand. Abendessen und an den Aufzeichnungen. Gehe gegen 22 Uhr noch einmal hinaus und kontrolliere die Heringe. Zwei haben sich gelockert und ich bohre schnell neue Löcher - man muß eben lernen. Mache noch ein paar Aufnahmen des Zeltes im flacher Abendsonne und genieße die ungeheuere Ruhe und Exponiertheit. Der Himmel ist leicht bewölkt und es weht ein nur leichter Südwestwind.

Abend
Durch die vielen Umwege, welche mir die Schmelzwasserbäche aufgezwungen haben bin ich heute nur 13 km vorangekommen. Wenn es so weitergeht, dann werde ich drei, anstatt wie gehofft zwei Tage für die Überquerung des Brúarjökull brauchen. Aber ich habe Reservetage eingeplant und habe noch Futter genug. Im Schlafsack ist es angenem warm wie immer und nur wenn ich die Hand auf den Zeltboden neben der Thermarest Matte lege fühle ich, daß ich auf einem Gletscher zelte.


kvöldsól


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