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Das Wetter ist morgens vielversprechend. Sonnig, traumhaft klar, 1 bis 2/8 Lentis, bei mäßigem
Wind aus Süd. Die beiden Wasserflaschen mit je einem Liter und der Wassersack mit zwei Litern
sind gefüllt. Ich selbst spiele Kamel und trinke so viel, wie gerade noch angenehm ist. Um 8 Uhr
breche ich auf. Ich verlasse Dreki auf der Piste Richtung Süden. Nach 50 Metern liegt eine Steinreihe
quer über der Piste, in ihrer Mitte das runde, rotumrandete Verkehrsschild "Gesperrt für
Kraftfahrzeuge aller Art", ich bin Fußgänger. Ich passiere das Schild, meine Stimmung ist gespannt,
ein wenig nervös, aber nicht eigentlich besorgt. Alle Voraussetzung sind soweit optimal, aber
ich lasse mich jetzt auf etwas mir Neues ein. Viel, fast alles hängt ab jetzt vom Wetter ab. Gegen das
Wetter kommt man nicht durch. Wie beim Segeln oder Fliegen muß man günstige Verhältnisse
nutzen, ungünstigen ausweichen oder sie abwettern, oder ganz einfach den Mut haben umzukehren.
Beginn der Piste
letzte Vegetation
Die Piste führt nach Süden zum Dyngjuvatn. Der See liegt ohne oberirdischen Abfluß zwischen den
Dyngjufjöll und dem unauffällig flachen Schildvulkan Vašalda und nimmt die Schmelzwasser der
Dyngjufjöll auf. In der Nähe des Baches finden sich einige Kolonien arktischer Weidenröschen - mir
fällt auf, daß ich vor drei Tagen das letzte mal Vegetation gesehen habe. Die Piste ist durch die
schon vertrauten Holzpfähle markiert. Die breite, frische Reifenspur eines Isländers der noch gestern
Abend von Süden kommend in Dreki eintraf ist deutlich zu erkennen. Neugierig habe ich ihn gefragt
wo er denn herkomme, aber er hat nur unbestimmt mit "around the mountains ..." geantwortet, mehr
wollte er nicht sagen, vielleicht weil die Route noch gesperrt ist? Von den Spuren des letzten Sommers
sind nur noch flache Mulden zu sehen. Um so leichter ist dafür Angelikas Fußspur von gestern zu
verfolgen. Auf dem flachen, oberen Ende eines der Markierungspfähle liegt ein schwarzglänzender
Obsidian - ein Zeichen? - vielleicht soll es Glück bringen. Nur ein Wanderer hat Zeit und Möglichkeit
ein so unauffälliges Zeichen zu setzen, und weiß, daß nur ein Wanderer es bemerken wird. Das
sympathische Rätsel scheint mir lösbar und vertreibt etwas Anspannung und Bedenken.
Dyngjuvatn
Kverkfjöll
Die Umgebung ändert sich nicht beim Gehen. Einzig die Uhr zeigt mir an, daß ich vorankomme:
jede Stunde Gehzeit bringt mich 3,5 bis 4 Kilometer weiter. Jede volle Stunde eine kurze Pause.
Langsam und allmählich entferne ich mich von den Dyngjufjöll. Der Untergrund erfordert keine
Aufmerksamkeit, die Füße finden ihren Weg von selbst, die stetige Bewegung stimuliert die
Phantasie, das Hirn arbeitet assoziativ, Gedankenketten entstehen, entwickeln, verschlingen sich
zurückkehrend und wieder aufnehmend immer weiter, sich breitmachend, endlich genügend Zeit und
Raum für sie. Wieder die alte, aber ader doch wieder neue und intensive Erfahrung - Wüstengänge sind
Gedankengänge. Ich bin allein, so stört niemand, niemand lenkt durch seine bloße Anwesenheit ab. Was
sonst ein Gespräch wäre, ist nun ein Selbstgespräch, kein Monolog - ein Dialog mit sich selbst. Das
sich klarmachen und wirken lassen der Tatsache, daß man, so weit das Auge den Horizont erfassen
kann, und der scheint hier soweit wie nirgendwo, der einzige Mensch ist. Das einzig Lebendige, will
einem scheinen, mitten in einer unbelebten, anorganischen Natur. Man bewegt sich aus eigener Kraft,
durch diesen gleichgültigen Raum, belebt ihn mit seiner bloßen Anwesenheit für einen Moment nur
um eine Kleinigkeit. Erfahrungen wie diese, wo können sie noch gemacht werden?
Ich lasse den Himmel nicht aus den Augen. Jede Veränderung des Wetters wird sorgsam registriert.
Woher kommt der Höhenwind, wie ziehen die Wolken, woher kommt der Wind am Boden? Wird
der Wind gegen Nachmittag zunehmen? Es ist warm, der schwarze Sand heizt sich auf,
Thermikablösungen wirbeln Staub und Sand immer häufiger zu "dust devils" empor die minutenlang,
sich windend, nordostwärts ziehen um dann wieder in sich zusammenzufallen. Thermik wird
sichtbar! Die meisten Sandteufel bleiben in sicherer Entfernung. Nur zwei, drei kleinere Exemplare
mit etwa 20 Meter Durchmesser ziehen mit einem merkwürdig zischendem Geräusch knapp an mir
vorbei. Die Phototasche ist sicher verschlossen, aber es bleibt bei einem nur leichtem Knirschen
zwischen den Zähnen.
"Dust Devils"
Um 14:30 Uhr Rast am Südrand des Lavafeldes. Tee und Müsliriegel. Eine beginnende
Wetteränderung zeichnet sich ab. Der leichte Föhn über dem Vatnajökull scheint nachzulassen. Es ist
fast windstill, von Nordosten zieht dichtere Bewölkung auf. Über der flachen Pyramide der
Trölladyngja hängen die ersten Regenstreifen. Zwölf Kilometer weiter im Süden liegt der
schuttbedeckte Gletscherrand wie eine dunkle, mit der Höhe zunehmend in graues Eis übergehende
Mauer. Nur ein schmaler Streifen blendender Firn bildet die Horizontlinie. Im Gletschervorfeld reißt
die Sonne einige gewaltige Sandsäulen in den Himmel. Der Karte nach müßte südlich des Lavafeldes
das Schwemmland beginnen, es ist jedoch alles trocken, keine Spur von Wasser, es sei denn es sind
keine Luftspiegelungen dort im Süden. Ich beschließe den Tag zu nutzen um heute noch so weit wie
möglich in Richtung des Passes am Uršarháls zu kommen. Die Piste bleibt nun am Südrand des
Lavafeldes und führt ziemlich genau nach Westen auf eine niedere Bergkette zu. Ein Blick auf
meinen Spickzettel sagt mir, daß es noch etwa 9 Kilometer bis zu diesen Bergen sind. Zwischen
ihrem Südende und dem Gletscherrand muß sich der Zugang zum Uršarháls befinden.
Gegen 17:00 Uhr biegen die Markierungen in nordwestlicher, dann sogar in nördlicher Richtung in das
Lavafeld ab. Irgendwo hier müßte auch die Abzweigung zur Gęsavatnleiš nišri, zum
nördlichen Weg sein. Meine Hauptrichtung ist aber Südwest zur Gęsavatnleiš syšri! Zur Bergkette
können es eigentlich nur noch zwei bis drei Kilometer sein und dort müßte die Straße wieder nach
Süden führen. Der Pistenverlauf paßt nun mit keiner Karte mehr zusammen und ich vermute, daß mir
ein ordentlicher Umweg droht. Da ich zu wissen glaube wo ich hin muß, gehe ich einige hundert
Meter zurück und verlasse dann die Piste Richtung WSW. Zuerst geht es noch zwischen bizarren
Lavabrocken hindurch, aber dann wird es wieder eben und fester und ich steuere zielbewußt den
Hangfuß der etwa 100 bis 200 Meter hohen Bergkette an. Ich finde ein paar alte, vielleicht auch sehr
alte Reifenspuren, aber keine Piste und keine Markierungspfähle. Und dennoch, nach meiner Karte
muß die Piste hier verlaufen oder sie verlief zumindest einmal hier. Eine alte Reifenspur, die recht
unmotiviert einen sandigen Hang hinauf führt verleitet mich ihr zu folgen. Die Spur verliert sich und
die Anstrengung des Anstieges wird mit einem noch steileren Abstieg bestraft ohne daß der Ausblick
von oben Klarheit über den Pistenverlauf gebracht hätte. Wenigstens habe ich dabei einen Sporn der
Bergkette abgekürzt und bin weiter nach Süden vorangekommen. (Vergl.: Tourenplan)
18:35 Uhr, Pause an einem Felsblock! Überdenke die Situation und empfinde sie als etwas kritisch.
Der Spur den Hang hinauf zu folgen war unüberlegt. Ein Fehler entstanden aus Müdigkeit und
Enttäuschung. Ich muß jetzt aufmerksamer sein, genauer analysieren und richtig entscheiden. Mit
dem Kompaß peile ich Kistufell, Kverkfjöll und Snęfell an, doch Kistufell und Snęfell liegen
außerhalb des Kartenblattes. Ich habe noch Kraft genug und beschließe der Hügelkette noch ein
gutes Stück weiter Richtung SSW zu folgen.
Um 20 Uhr mache ich Halt und baue das Zelt etwas geschützt hinter einer einen Windkolk bildenden
Düne, am Fuß einer kleinen Felswand auf. Der Himmel hat sich nun ganz bezogen und ein kräftiger
West weht. Dort, am Ende der Hügelkette, wo es dann Richtung SW zum Uršarháls gehen muß,
ziehen gelbliche Staubfahnen und verdecken jede Sicht nach Süden. Obwohl ich beim Verstauen
meiner Sachen sehr vorsichtig bin wird eine Menge schwarzer Sand in das Zelt gewirbelt - schwarz
wie Kohlestaub. Müde lege ich mich auf die Isomatte und schlafe auch sofort ein. Gegen 21:30 Uhr
wieder aufgewacht. Beschließe zu kochen: Huhn mit Curryreis, dazu ein Becher Wasser. Nach dem
Essen geht es mir körperlich und moralisch wieder besser und mache einen kleinen Erkundungsgang
auf den Berg hinter meinem Zelt.
Der Aufstieg ist steil und felsig, die Sicht ist aber jetzt ungestört. Ich bin etwa 150 m über meinem
Lagerplatz. Der Hang wird flacher aber ich steige nicht weiter auf. Von hier oben sehe ich in
etwa einem Kilometer Entfernung eine Abflußrinne die möglicherweise etwas Wasser führt, alte
Autospuren und einen einzelnen Markierungspfahl etwas weiter südlich! Na also, das war doch was
ich sehen wollte! Ich steige wieder ab und hole meinen Wassersack aus dem Zelt. Das Wasser
erweist sich als eine flache Schlammpfütze, aber der Pfahl ist wirklich da und steckt einsam und
verlassen im Sand. In der Nähe befinden sich relativ frische Reifenspuren. Also, entweder es gibt
zwei Strecken, eine alte und eine neue und ich bin auf der alten unterwegs, oder es gibt nur diese
eine aber die ist furchtbar schlecht markiert. Die zweite Möglichkeit scheint mir wenig
wahrscheinlich. Auf jeden Fall bin ich mir jetzt ziemlich sicher wie es weiter geht. Ein weiterer
Sorgenpunkt bleibt mir allerdings noch. Das Wetter hat sich seit 15 Uhr mit der Winddrehung auf
NW kontinuierlich verschlechtert und jetzt schieben sich tiefe Wolken von hinten über meine
Hügelkette. Werde mir ein paar Stunden Schlaf gönnen und einen frühen Start versuchen.
Vor mir liegt der Sander des Dyngjujökull. Bis zum Gletscherrand 40 Kilometer flache
Sandebene. In der Breite mißt er nicht viel weniger. Interessanterweise hat dieser Sander keinen
eigenen Namen. Alle Wegbeschreibungen die ich fand sind teilweise vage und zu sehr aus der Allradperspektive
geschrieben. Da ist die Sache mit dem Wasser. Entweder es gibt zu wenig oder es soll mehr geben als
einem lieb sein kann. Je nachdem, zu welcher Tageszeit ein Autor den Sander durchfahren hat
schreibt er von einer Sandwüste oder von einem Schwemmland und empfiehlt ihn früh morgens zu
durchqueren. Ich werde wohl anderthalb Tage dafür brauchen, habe also die Chance beides zu
erleben. Eine 15 km Sandebene auf der ein entsprechendes Fahrzeug mit 80 km/h durchbrettern kann
ist für den Fußgänger schon mehr als eine halbe Tagesetappe, auf der einen schon der nächste
Wetterumschwung ereilen kann. Andererseits ist ein für einen Geländewagen "extrem schwieriges"
Lavafeld für den Fußgänger ein angenehm, abwechslungsreicher Abschnitt mit einer erfreulichen
Auswahl an Brotzeitfelsen. Zur Literaturlage kommt noch, daß es die auf der Karte eingezeichnete
Route so nicht mehr gibt, denn sie ist in ihrem Verlauf geändert worden. Das neue Kartenblatt ist in
Arbeit, aber noch nicht erschienen.
Ein Wegweiser zeigt nach Westen zum Dyngjuvatn. Die Piste bleibt so weit wie möglich am flachen
Hangfuß der Vašalda (vaš = Furt, alda = Höhe, Höhenzug). Der See hat von der Ferne betrachtet sehr seichte
Ufer und sieht wenig einladend aus. Die Piste wendet sich nun nach Südwesten und verläßt die
flache Pforte zwischen Dyngjufjöll und Vašalda. Die Landschaft weitet sich zu einer gewaltigen,
schwarzen Ebene. Weite bedarf ebenso der Gewöhnung wie Tiefe, beide können Urängste wecken,
wenn man sie nur passiv auf sich wirken läßt. Das Gefühl einer noch nie so intensiv gespürten
Exponiertheit wird zu einer neuen Erfahrung. Von dem Raum geht keine direckte Bedrohung aus,
aber er induziert Vorsicht und gespannte Aufmerksamkeit.
Aber ich bewege mich, Schritt für Schritt, auf mal festen, mal weicheren, zu geschwungenen
Rippeln geformten tiefschwarzem Lavasand. Der Blick unterscheidet in wenigen Metern Umkreis
jedes Detail des Mikroreliefs, doch verläßt der Blick den Bereich der nächsten Schritte so gleitet er
über dunkle Detaillosigkeit bis zum Horizont. Erst dort findet er am schuttbedeckten Rand des
Dyngjujökull wieder scheinbaren Halt, doch aus dem Gletschervorfeld aufsteigende gelbliche
Staubfahnen lassen das Bild verschwimmen. Mit fortschreitender Dauer des Tages wird selbst das
den südöstlichen Horizont beherrschende, vergletscherte Massiv der Kverkfjöll, mit seiner
charakteristischen Bresche, immer häufiger von den gelblichen Staubschleiern verdeckt.
Ein weiters Hinweisschild "Svartá", schwarzer
Fluß, weist unbestimmt über einen flachen Rücken nach Osten. Hier ist nur Sand, nichts als
schwarzer Sand, eine doppelte Reifenspur und eine Kette von grau verwitterten Markierungspfählen.
Die Pfähle stehen in einem Abstand von 100 bis 200 Metern und ragen einen guten Meter aus dem
Sand. Manche von ihnen sind umgefallen. An ihrer Nordseite sind teilweise noch letzte Reste gelber
Farbe zu erkennen. An ihrem oberen Ende sind reflektierende Plastikstreifen angetackert. An der
nach Süd exponierten Seite der Pfähle haben die Plastikstreifen das unter ihnen liegende Holz vor
dem Sandstrahlgebläse der Südwinde geschützt, welches das freiliegende Holz um einen halben bis
einen Zentimeter abgeschmirgelt hat. Eine eindrucksvolle Demonstration "woher der Wind weht".
Gegen Mittag erreiche ich das in der Karte verzeichnete Lavafeld. Es ist fast im schwarzen Sand
ertrunken, nur alle Zehnermeter ragt ein Lavabrocken aus dem Sand, manchmal schließen sie sich zu
kleinen Gruppen zusammen, um welche die nun dichter gesetzten Markierungspfähle einen sorgsam
herumführen. Flache Rücken und Mulden bringen nun Abwechslung in das "Mesorelief". Die
Abwechslung für das Auge wird jedoch durch tiefe, weiche Sandverwehungen an den nordexponierten
Muldenhängen erkauft. An einer Stelle verschwinden sogar die Markierungspfähle unter dem Sand.
Erst nach einigem Suchen kann ich vom nächsten Rücken aus den nächsten Pfahl entdecken. Ein
besonders Phänomen mahnt zur Aufmerksamkeit: im Gegenlicht heben sich die Schattenseiten der
grauen Pfähle kaum von dem die Sonne reflektierenden schwarzen Sand des Untergrundes ab.
Vorausschauend sieht man unter diesen Umständen vielleicht nur die nächsten zwei Pfähle, blickt
man jedoch mit der Sonne im Rücken zurück, so kann man über Kilometer die hell aufleuchtenden
Pfähle vor mattschwarzem Hintergrund alle Biegungen und Windungen der Piste markieren sehen.